Chucks Welt
demnächst alle ihre Steuererklärungen abgeben müssen, also bin ich alleine gekommen. Was bedeutet, dass keiner den Fahrstuhlknopf für mich drücken kann, und ich bin fest entschlossen, es nicht mit dem Ellbogen zu machen wie sonst.
Das ist nur ein Prozess in deinem Gehirn, Chuck. Dir passiert nichts, wenn du den Knopf anfasst. Drück einfach, dann siehst du’s.
Schnell drücke ich drauf. Ersteche ihn sozusagen. Er blinkt auf und dann geht es los. Das ist einer der KVT-Tricks, die ich immer wieder einsetze: Ich mache so schnell, dass ich gar keine Chance habe, mir meinen Vorsatz auszureden. In grob der Hälfte aller Fälle funktioniert das gut.
Ich beäuge meinen Finger. Er scheint mir abstoßend. Aber ich rede mir gut zu, dass alles okay ist. Das ist verdammt schwer. In meinen braunen Chucks komme ich mir wie ein Betrüger vor: Ich bin nicht annähernd so selbstsicher, wie ich es war, als ich sie angezogen habe.
Seit ich angefangen habe, die Pillen zu nehmen, ist Dr. S. viel besser gelaunt. Das ist gut. Fühlt sich nämlich absolut beschissen an, wenn du dir einbildest, deine Psychiaterin würde dich hassen.
Ich berichte ihr, wie es steht. Dr S. sagt, ich soll mich immer nur auf eine Sache konzentrieren und es langsam angehen lassen, aber ich möchte alles auf einmal schaffen und endlich geheilt sein. Außerdem habe ich viel Zeit, um an meinen Ritualen zu arbeiten, nachdem mich eine gewisse weibliche Person meidet wie die Pest.
»Das mit dem Herd und dem Schließfach kriege ich am besten hin, glaube ich. Diese Woche bin ich kein einziges Mal aufgestanden, um die Platten zu kontrollieren. Ich bin auch ziemlich gut darin, das Schloss nur ein Mal umzudrehen. Und auf dem Weg hier hoch habe ich den Fahrstuhlknopf gedrückt.« Stolz recke ich den Zeigefinger, als hätte ich bei den Wahlen im Irak meine Stimme abgegeben.
»Sehr gut, Chuck. Deine Fortschritte begeistern mich. Wie steht es mit dem Urinieren?«
»Äh, ich stehe immer noch oft auf zum Pinkeln, obwohl ich gar nicht muss.«
»Und das Händewaschen?«
»Na ja … ich wasch mir weiterhin ziemlich oft die Hände. Und mache auch immer noch Listen. Und klopfe auf Holz. Und ich habe weiter meine festgelegten Routen in der Schule …« Ich verstumme.
»Chuck, sei nicht so streng mit dir. Du hast wirklich große Fortschritte gemacht in der kurzen Zeit, nicht? Es geht nicht schnell oder leicht.«
Dr. S. versucht schon seit Wochen, das in meinen Kopf zu kriegen: Es geht nicht schnell oder leicht . Ehrlich, das ist irre entmutigend. Ich nehme die Medikamente. Ich tue, was sie sagt. Wieso geht das nicht einfach weg?
»Zwangsstörungen gehen nicht einfach weg, Chuck, das weißt du?«
Einen Augenblick lang bilde ich mir ein, Dr. S. könnte Gedanken lesen. Sie ist in Höchstform.
»Das weiß ich, klar«, sage ich, »aber ich wünsche mir, es wäre so.«
»Der Umgewöhnungsprozess …«
Ich weiß genau, was Dr. S. sagen will, daher unterbreche ich sie mit einer kleinen Imitation ihrer selbst, inklusive indischem Akzent. »… braucht seine Zeit. Du musst dein Gehirn neu ausrichten, ja?« Ich verziehe das Gesicht. Habe ich sie beleidigt?
Dann lächelt Dr. S. »Genau. Anscheinend klinge ich wie eine Schallplatte mit Sprung?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ein bisschen.«
Dr. S. nickt und hört nicht auf zu lächeln. Ich kann manchmal schon ziemlich komisch sein.
»Was sagen deine Eltern zu deinen Fortschritten?«
»Ich glaube, sie sind erleichtert. Mom fragt mich nicht danach, weil sie weiß, dass mich das ärgert. Also erzähle ich’s meinem Dad und der gibt es dann weiter, allerdings meistens irgendwie falsch.«
Dr. S. grinst wieder. Gerade läuft alles super.
»Und was hält Amy davon?«
Kurz bleibt mir fast der Atem weg. Diese Frage überrumpelt mich. Mit Amy ist alles beim Alten. Wenn sie mich sieht, guckt sie weg. Falls wir uns doch mal direkt anschauen und sie nicht anders kann, nickt sie halbherzig, statt richtig Hallo zu sagen. Seit dem »Vorfall« haben wir nicht mehr miteinander gesprochen und keinen SMS- oder Facebook-Kontakt gehabt. Rauchsignale haben wir auch nicht verschickt. Ich finde, es ist an der Zeit, Dr. S. einzuweihen.
»Amy und ich hatten einen Streit«, sage ich stockend. »Ich hab so ein paar ziemlich blöde Sachen gemacht und jetzt hasst sie mich. Aus dem Grund habe ich mit Lexapro angefangen.«
»Das tut mir sehr leid, Chuck?«
»Ich hätte auf Sie hören sollen. Wenn ich das Ganze schon
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