Chucks Welt
ich ihm diese Tatsache doch besser irgendwie versüßen?
»Äh«, stottere ich und improvisiere drauflos. »Ich hab tatsächlich mit ihr gesprochen.« Steve rutscht bis vor an den Stuhlrand. Den Rand von Amys Stuhl. »Ungefähr zwei Sekunden lang. Sie hat gesagt, sie überlegt sich’s.«
»Was?«, ruft Steve aufgeregt. »Du hast Beth gesagt, dass ich sie gut finde und gern mit ihr zusammen wäre, und sie hat gemeint, sie überlegt sich’s?«
»Genau«, sage ich, als würde die Geschwindigkeit, mit der ich antworte, die Lüge weniger schlimm machen.
»Das ist doch super!«, meint Steve. »Ich hab also Aussichten, stimmt’s?«
»Tja«, sage ich. »Aussichten gibt es immer. Aber der Erwartungswert ist nicht besonders hoch, um es mathematisch auszudrücken.«
»Trotzdem, eine kleine Chance ist tausendmal besser als keine«, beharrt Steve und wird immer aufgeregter.
Das ist genau die überdrehte Reaktion, vor der ich mich gefürchtet habe.
»Vielen Dank, Chuck, wirklich. Das weiß ich sehr zu schätzen. Stell dir doch mal vor, wenn ich mit deiner Schwester zusammen wäre, dann wären wir zwei Brüder! So ähnlich jedenfalls.«
»Klar«, sage ich. »Brüder.« Es schüttelt mich, wenn ich mir Steve mit Beth zusammen vorstelle. »Aber wir sollten jetzt mal loslegen.«
Steve zappelt mit den Schultern und vollführt beim Aufschlagenseines Schulwälzers einen kleinen Tanz auf dem Stuhl. Ich habe meinen besten Freund glücklich gemacht. Was kann daran verkehrt sein?
T ja, Chuck, nach dem, was du erzählst, scheint mir, du machst beachtliche Fortschritte, richtig? Du hast gegen einige von deinen Zwängen KVT ausprobiert und oft mit Erfolg – deine Symptome haben sich reduziert. Der Weg vor uns ist immer noch lang, aber ich bin sehr optimistisch. Die Behandlung mit Lexapro möchte ich zunächst gerne fortsetzen, ja?«
Ich nicke mürrisch, während Dr. S. weiterredet.
»Allerdings musste ich feststellen, dass deine Stimmung in den letzten Sitzungen immer wieder … äußerst schwankend gewesen ist. Freust du dich nicht über deine Fortschritte, Chuck?«
»Doch«, sage ich, »ich bin schon froh, dass es so läuft. Nur gibt es da, na ja, ein paar andere Sachen, die mir zu schaffen machen.«
»Das ist völlig in Ordnung, Chuck. Was bedrückt dich?«
Auch wenn die Pillen und die KVT gut funktionieren und es mir gefällt, Fortschritte zu machen, hat das Ganze einen sonderbaren Nebeneffekt: Mein Hirn wird ein bisschen klarer und dadurch denke ich ziemlich viel darüber nach, dass meine Highschoolzeit zu Ende geht und mein Leben, sagen wir mal so, immer noch zum Kotzen ist.
»Mein bester Freund …«, setze ich an.
»Steve?«
»Ja, Steve.« Dr. S. wird dafür bezahlt, mir zuzuhören und sich zu merken, was ich erzähle, das vergesse ich immer wieder. »Steve ist schon lange in meine Schwester verknallt. Und obwohl Beth so ein Miststück ist, habe ich Steve gesagt, ich hätte mit ihr gesprochen und, Sie wissen schon, ein gutes Wort für ihn eingelegt.«
»Und das belastet dich jetzt in deinem Verhältnis zu Beth?«
»Nein, es belastet mich, weil ich in Wirklichkeit gar nicht mit ihr geredet habe. Ich habe Steve angelogen.«
»Ach.« Dr. S. senkt den Blick auf ihren Notizblock. Kurz huscht ein Ausdruck von Missbilligung über ihr Gesicht, den sie sonst immer zu verbergen weiß.
»Nun ja, es gibt eine Möglichkeit, dieses Problem anzugehen, oder?«
»Echt?«
»Warum spricht du nicht wirklich mit Beth?«
Auf einmal dämmert mir, wie sie sich das wohl denkt.
»Ach so. Denn wenn ich doch mit ihr spreche, habe ich ihn im Prinzip gar nicht angelogen!«
Dr. S. schüttelt amüsiert den Kopf. »So hatte ich das nicht gemeint, Chuck, ganz sicher nicht. Ich wollte nur zu bedenken geben, dass es für das Gespräch, das du mit Steve zu führen hast, bestimmt hilfreich wäre, wenn du Beths wahre Gefühle für ihn kennst?«
Verdammt! Und ich dachte schon, Dr. S. wäre besonders gewieft und hätte mir ein Hintertürchen verraten, wie ich aus dem Schlamassel rauskomme. Was sie vorschlägt, ist keine Hilfe. Beths wahre Gefühle? Da braucht man kein ausgeklügeltes Sneaker-Farbsystem. Bei ihr gibt’s nur eine Stimmung: Zicke hoch drei.
»Begreifst du, was ich sage, Chuck?«
»Denk schon.«
»Was liegt dir sonst noch auf der Seele?«
»Sollen wir ernsthaft über so was reden? Über normale, nichtverrückte Sachen?«
»Ich bin deine Therapeutin, Chuck. Meine Aufgabe beschränkt sich nicht darauf,
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