Chucks Welt
Ich versuche, mich abzulenken, indem ich Stacey eine Frage stelle. »Hast du was Neues gehört über Buttercup?«
»Was?« Stacey wirkt ohne jeden Grund genervt.
»Amys Hund. Weißt du, ob sie ihn gefunden hat?«
»Ach so. Nein. Der ist immer noch weg. Amy hängt jetzt Handzettel auf.«
»Aha. Okay. Danke.«
Stacey setzt ein falsches Lächeln auf, so im Stil von: »Weißt du eigentlich, wie schwer mir das hier fällt?« Ich nehme das als Signal zu verschwinden.
Ich lehne an der Wand, gegenüber vom Sagrotanspender. Die Erfolge des bisherigen Tages: Ich habe zum ersten Mal seit dem Hauswirtschaftsunterricht in der Achten mit Stacey Simpson geredet und diese grässliche Abschlussfahrt mit meinem Geld unterstützt. Keins von beidem hat mich umgebracht. Ich habe Staceys Finger berührt, mit Scheinen und Münzen hantiert und diesen verdammten Kuchen auch noch aufgegessen. Ich habe mir hinterher nicht mal die Händegewaschen. Dr. S. will, dass ich mich meinen Triggern aussetze? Kann sie haben.
Ich spüre, wie mir der Zucker und die Krümel und die Farbe von den Fingern aus den Arm hochkriechen bis in mein Gesicht. Alles okay, Chuck. Das ist bloß Essen. Bloß Geld. Bloß die Haut von einem echt heißen Mädchen. Alles kein Problem.
Der Spender vor mir ist so verlockend. Er ruft nach mir.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu.
Ich kämpfe dagegen an.
Ich gebe nicht nach.
Ich gehe weg.
Ich habe gesiegt.
Ich schaffe das.
I ch starre auf den Computerbildschirm. Unter dem Link, der mich früher auf Amys Facebookprofil geführt hat, steht nur:
Die von dir angeforderte Seite konnte nicht gefunden werden.
Du hast möglicherweise auf einen ungültigen Link geklickt oder die URL falsch eingegeben. Bei manchen Internetadressen wird zwischen Groß- und Kleinschreibung unterschieden.
Schwachsinn, ich habe nichts falsch eingegeben. Amy hat mich immer noch blockiert. Das wird langsam absurd. Ich muss mit ihr sprechen. Wir hocken jeden Tag zusammen in dieser beschissenen Mathestunde und sie hat schon wochenlang kein Wort mit mir gesprochen.
Ich überlege: Wenn es für Dr. S. und Steve okay ist, die Amy-Taktik einzusetzen, wieso mache ich es dann nicht genauso? Ich weiß, was ich tun werde: Ich wende die Buttercup-Taktik an.
Ich schnappe mir mein Handy und schicke Amy eine SMS: Hab von Buttercup gehört. Bist du okay? Das ist ein heikles Thema, logisch, aber zugleich das Einzige, worauf Amy garantiert einsteigt. Das kann sie nicht ignorieren.
Und wirklich, zwei Minuten später kommt eine Antwort: THX. Bin traurig.
Drei Wörter, und eins davon nur ein blödes Kürzel, trotzdem ist das die längste Unterhaltung mit Amy seit dem Tag in der Bibliothek. Ich habe nicht viel in der Hand.
Ich schreibe zurück: Kann ich irgendwas für dich tun?
Sie antwortet: Nein, danke.
Im Vergleich zu dem lustig-leichten Hin und Her früher an unserm Tisch tut diese Einsilbigkeit weh. Ob das hier überhaupt Sinn macht?
Ich schreibe: Tut mir echt leid, was passiert ist.
Diesmal dauert es länger, bis eine Antwort kommt. Aber dann schreibt sie doch: Schon okay.
Ich habe mehr erwartet. Vielleicht hat sie erst mehr geschrieben und es dann wieder gelöscht? Die gute Nachricht: Sie scheint nicht mehr sonderlich sauer auf mich zu sein. Die schlechte Nachricht: Die Sache mit Buttercup macht sie so fertig, dass ihr sonst wohl alles egal ist.
Höchste Zeit, alles auf eine Karte zu setzen. Ich habe Dr. S. und mir selbst geschworen, Amy niemals zu erzählen, was mit mir los ist. Dabei weiß sie in Wahrheit sowieso, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. Dr. S. behauptet ja immer, die Zwangsstörungen gehören zu mir. Amy ist der coolste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Sie wird das verstehen. Hoffe ich jedenfalls.
Ich schreibe den Satz wohlüberlegt hin. Ich lese ihn noch mal durch. Dann drücke ich auf Senden: Amy, ich habe eine Zwangsstörung.
So, jetzt ist es raus.
Es dauert keine zwei Sekunden, bis ihre Antwort kommt. Aber da steht nur ein Fragezeichen.
Das ist eine Krankheit, erkläre ich ihr.
Sie antwortet: Weiß ich. Warum erzählst du mir das?
Jetzt schreibe ich wie mit Warp-Antrieb. Deswegen bin ich ausgerastet. Bin aber dabei, alles in den Griff zu kriegen.
Sie schreibt: Oh, Chuck.
Oh, Chuck?
Ich weiß nicht, was das heißen soll. Dieses verdammte Simsen! Was bringt das, wenn der Tonfall fehlt? Ist das ein Oh, Chuck, wie gut, endlich weiß ich, was mit dir los ist! ? oder ein Oh, Chuck, du armes,
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