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Chuzpe: Roman (German Edition)

Chuzpe: Roman (German Edition)

Titel: Chuzpe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Brett
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Mehrmals sagte er, er wäre besser in Australien geblieben, statt so kurz vor seinem Tod in ein neues Land umzuziehen. Edek stand keineswegs kurz vor dem Sterben. Er war nicht einmal krank. Er sprach nur dauernd vom Sterben. Das hatte er seit Ruths frühester Kindheit getan. »Bald werde ich unter der Erde sein«, hatte er immer gesagt. Wenn sie Dinge erörterten, die nicht innerhalb der nächsten Tage stattfinden würden, sagte Edek stets: »Wenn ich dann noch am Leben bin.« Das hatte er mit fünfunddreißig gesagt, mit fünfundvierzig, mit fünfundfünfzig, mit fünfundsechzig, mit fünfundsiebzig und mit fünfundachtzig. Der Tod war immer in seinen Gedanken. Und das war verständlich bei jemandem, der sechs Jahre seines Lebens vom Tod umringt, umzingelt, umschlossen gewesen war.
    Edek und Rooshka waren immer von den Toten umgeben gewesen. Und Edek und Rooshka hatten Hunderte von Toten zu beweinen. Nur sie hatten überlebt. Und dann hattensie Ruth bekommen. Ruth hatte begriffen, was für ein unangemessener Ersatz sie für Edeks und Rooshkas Mütter und Väter und Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten, Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten gewesen war. Das hatte sie von Anfang an begriffen. Sie hatte die Toten beinahe spüren können. Ihre Abwesenheit. Und die Unabänderlichkeit dieser Abwesenheit.
    Sie war so bald nach all den Morden, all dem Schrecken, all dem Wahnsinn geboren. Aber sie war nicht ungeschoren davongekommen. Sie war dem Schrecken, dem Chaos, dem Wahnsinn, der Angst und dem Entsetzen nicht entkommen. Sie waren in Rooshka und Edek erhalten geblieben und Ruth von Geburt an mitgegeben worden. Sie war dem Kummer und dem ungläubigen Staunen nicht entkommen. Auch sie waren Teil ihres Alltags geworden. Unabänderlich. Und von ihr waren sie auf ihre Kinder übergegangen. Verdünnt und schwächer. Aber vorhanden.

Zweites Kapitel
    Ruth betrat das Second Avenue Deli, in dem sie mit Edek verabredet war. Das Restaurant hatte ein typisch New Yorker jüdisches Ambiente. Dillgurkenaroma mischte sich mit dem Duft von Hühnersuppe und Pastrami. Ruth beschloß, eine Tasse Kamillentee zu trinken. Im Second Avenue Deli gab es keinen Kamillentee; Ruth hatte also einen Teebeutel mitgebracht und bestellte eine Tasse heißes Wasser. Kamillentee beruhigte ihren Verdauungsapparat. Letzte Woche hatte sie mit Edek im Second Avenue Deli gegessen, und seitdem hatte sie sich nicht recht wohl gefühlt. Sie und Edek hatten in letzter Zeit zwei- bis dreimal in der Woche in dem Restaurant zu Abend gegessen. Zu zweit. Inzwischen hatte Ruth den Eindruck, daß sie seltener essen gingen. An manchen Abenden hatte Edek nach der Arbeit offenbar noch andere Dinge zu erledigen. Und Ruth war froh darüber gewesen. Auch im Büro war Edek die letzten Wochen über mehrere Male nicht erschienen. Diese Tage waren so friedlich gewesen. Ruth vermutete, daß Edek eine Ruhepause gebraucht hatte. Die lange Arbeitszeit im Büro war für jeden ermüdend.
    Edek liebte das Second Avenue Deli. Er liebte die gehackte Leber, die Hühnersuppe, die Matzeklöße, die Rinderbrust. Er liebte alles, was auf der Speisekarte stand. Ruth vertrugdieses Essen nicht. Oder das Essen vertrug sie nicht. Wie herum auch immer, das Ergebnis war unerfreulich. Aber Edek wollte nur im Second Avenue Deli essen. Nirgendwo anders. Und es war leicht für ihn zu erreichen, wie er gern betonte. Seine Wohnung lag direkt gegenüber. Wollte man Edek Glauben schenken, war alles, was es im Second Avenue Deli gab, nahezu vollkommen. Die einzige Ausnahme war der Gefilte Fisch. »Im Second Avenue Deli gibt es nicht so guten Gefilte Fisch, wie Mum ihn hat immer gemacht«, hatte Edek gesagt. Bei der Erinnerung an Rooshka und ihren Gefilte Fisch hatte er sehr betrübt ausgesehen. Edek hatte sich in Rooshka verliebt, als sie dreizehn war. Bis zu ihrem Tod hatte er sie leidenschaftlich geliebt, und bis zu ihrem Tod war sie in seinen Augen ein junges Mädchen geblieben. Nach ihrem Tod war er verzweifelt gewesen. Jahrelang.
    »Wir sollten zu Russ and Daughters gehen«, sagte Edek unerwartet eines Abends, als sie das Büro verließen. »Es ist der einzige Laden, wo sie machen Gefilte Fisch fast so gut wie Mum.« Es überraschte Ruth, daß Edek in einem anderen Lokal essen wollte.
    »Und wie wäre es mit dem Carnegie Deli?« schlug Ruth vor.
    »Nicht so gut wie Russ and Daughters«, sagte Edek.
    »Aber bei Russ and Daughters kann man nicht essen«, sagte Ruth. »Da kann man nicht sitzen.«
    »Wir

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