Chuzpe: Roman (German Edition)
von Garths jahrzehntelanger Arbeit, Jahrzehnten ihrer Tagebücher, Jahrzehnten von Fotos ihrer Eltern und Kinder, und als sie sich fragten, wo sie wohnen sollten, hatte Ruth gesagt: »Es geht schließlich nicht um Leben und Tod.« Das ganze Jahr über, in dem das Loft renoviert wurde, sagte sie: »Es geht schließlich nicht um Leben und Tod«; sie sagte es so oft, daß sie selbst darüber erschrak. Zelda, die damals das College besuchte, bat sie, es nie wieder zu sagen. »Wir wissen es, Roo«, sagte Zelda.
Ruth wußte nicht, warum alle drei Kinder sie Roo nannten. Nie hatte sie jemand Mom oder Mama oder Mutter genannt. Zumindest niemand aus ihrer Verwandtschaft.
»Haben Ihre Kinder das Gefühl, Sie wären nicht ihre Mutter?« hatte man sie einmal an einer Schule gefragt, die eines ihrer Kinder besuchte.
»Das mögen sie sich vielleicht manchmal wünschen, aber sie wissen ziemlich gut, daß ich es bin«, hatte Ruth geantwortet.
»Ich wollte Sie nicht kränken«, hatte die Frau gesagt.
Ruth hielt es für höchst unwahrscheinlich, daß die Frau ihre Frage als Kompliment gemeint hatte. Es war erstaunlich, wie wenig Wert die Leute im allgemeinen darauf legten, ihre Absichten zu verschleiern. Wenn jemand sagte, er wolle einen nicht kränken, verletzen, verärgern, er wolle nicht beleidigend sein, unfreundlich oder grob, dann konnte man sich fast darauf verlassen, daß er es umgehend tun oder sein würde. So wie man sich oft darauf verlassen konnte, daß jemand, der von sich sagte, er sei ein ehrlicher Mensch, sich als unehrlich erweisen würde, oder jemand, der sich als offenbezeichnete, sich als der verschlossenste und undurchdringlichste Zeitgenosse herausstellen würde. Fast jeder, der sich in einem Gespräch mit den Worten »verletzen«, »kränken« oder »verärgern« konfrontiert sah, war nach Beendigung des Gesprächs tatsächlich verletzt, gekränkt oder verärgert. Die Absicht des Sprechenden war so unverkennbar wie ihr Erfolg.
Unabhängig von der Natur ihrer Absichten brachte es Ruth jedesmal aus der Fassung, wenn sie ihren Vater aus der Fassung brachte. Er war zufrieden mit seinem Leben. Er war siebenundachtzig. Er führte ein selbständiges Leben. Die meisten seiner guten Freunde hatten sich als weniger gute Freunde herausgestellt. Oder sie waren gestorben. Rooshka fehlte ihm. Sehr. Oft weinte er, wenn er von ihr sprach. Ruth ging es genauso. Sie hatte das Gefühl, daß sie sich vom Tod ihrer Mutter nie erholen würde. Wahrscheinlich war es sowieso nicht möglich, sich vom Tod eines nahestehenden Menschen zu erholen.
In Amerika begegnete man Trauer und Verlusten, als handele es sich um klare, festgesetzte Einheiten. Die man etikettieren, vermessen und einordnen konnte. Einheiten, die einen Anfang und ein Ende hatten. Anfang und Ende, die jeweils unmißverständlich umrissen und benannt waren. Ob im Fernsehen und im Radio, ob in Dokumentarfilmen, Theaterstücken oder sogar in Spielfilmen – dauernd verkündet jemand, daß er sich im Prozeß des Trauerns befand, um als nächstes zu verkünden, daß die Zeit des Trauerns vorbei sei, der Prozeß der Heilung und des Schließens der Wunde beginne. Diese Bekundungen konnten sich auf das Land beziehen, auf die Stadt, den Radio- oder Fernsehsender, auf einen Menschen und seinen Partner, auf Kollegen oder Verwandte. Die Leute schienen immer zu wissen, in welchem Stadium des Prozesses sie sich gerade befanden. Ruth hatte viel Zeit ihres Lebens mit der Anstrengung verbracht, wesentlichkleinere Aspekte von Trauer und Verlust zu verstehen zu lernen. Sie wußte, daß sie nie in der Lage sein würde, zu definieren, in welchem Stadium sie sich befand, wenn es um komplexere Zusammenhänge als den Einkauf in einem Supermarkt ging. Für ihre eigenen Begriffe verbrachte sie viel Zeit damit, über Probleme nachzudenken, die unlösbar waren. Sie nahm an, daß dies ursächlich damit zusammenhing, daß sie jahrelang in die Analyse gegangen war, oder damit, daß sie ein Mensch war. Oder mit beidem.
Inzwischen verbrachte Ruth auch viel Zeit damit, über Botengänge, Aufgaben, Tätigkeiten, Unternehmungen und Arbeiten nachzudenken, mit denen man Edek beschäftigen konnte. Allerdings vermittelten die Botengänge und Aufgaben Edek nicht immer den Eindruck, daß er nützlich war. Sie machten ihn nicht glücklich. Edek sah bedrückt aus, wenn etwas schiefging. Wenn er sich verirrte oder den falschen Artikel brachte. Und wenn er nichts zu tun hatte, wirkte er gelangweilt und lustlos.
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