Chuzpe: Roman (German Edition)
und verzerrt war. Wenigstens geriet sie inzwischen nicht mehr dauernd in Panik. Sie probierte einfach ihren roten Mantel an. Ihr roter Mantel war so eng, daß er ihr gerade paßte.
Ruth wog sich auch nicht mehr. Sie wog sich nicht gern. Dauernd auf die Waage zu steigen war nichts für sie. Die Ängste und Befürchtungen, die es im voraus auslöste, und die Vorbereitungen, die sie dafür treffen mußte, waren zuviel des Guten. Früher hatte sie sich immer morgens gewogen. Nackt. Sie hatte sich immer vergewissert, daß sie alles abgelegt hatte, was ihr Gewicht verfälschen konnte. Alles, was sie schwerer machen konnte. Sie leerte alle Organe, die man leeren konnte, Blase, Lungen. Das Wiegen selbst war ebenfalls eine zeitraubende Angelegenheit. Sie konnte sich nicht mit einem einzigen Mal an einem Morgen zufriedengeben. Sie wog sich wiederholt in dem Versuch, das geringstmögliche Gewicht zu erzielen. Zuerst stellte sie sich an den vorderen Rand der Waage, dann an den hinteren, dann an den linken und an den rechten. Sie stellte sich auch auf die Zehenspitzen oder machte ihre Fußsohlen so flach wie möglich. An dem Ergebnis änderte es meistens nichts.
Letzte Woche hatte Edek verkündet, er habe seit seinem Umzug nach New York zwei Kilo abgenommen. Edek hatte sehr zufrieden geklungen. Ruth war nicht ganz klar, wie es Edek gelungen sein sollte, diese zwei Kilo abzunehmen. Sie nahm an, daß es an den zusätzlichen Spaziergängen lag, die er unternahm, um den Lunch zu holen. Es hatte sie überrascht,von Edeks Gewichtsverlust zu erfahren. Es war ihr neu, daß er sich für sein Gewicht interessierte. Sie hatte nicht einmal gewußt, daß er sich wog. Edek hatte noch nie von seinem Gewicht gesprochen.
Ruth drehte ihr Haar um einen Finger; sie saß an einem Tisch hinten im Second Avenue Deli. Ihr fiel auf, daß sie diese Geste jahrelang nicht mehr gemacht hatte. Irgend etwas verstimmte sie. Irgend etwas am Verhalten ihres Vaters in den letzten Tagen verstimmte sie. Vergangene Woche war er seltener als sonst ins Büro gekommen. Andere Male war er ziemlich spät gekommen. Und früh gegangen. Er sagte, er habe zu tun. Sie hatte ihn mehrmals gefragt, was er zu tun habe. Aber seine Antworten waren nicht sehr erhellend gewesen. »Ich habe zu tun«, sagte er. Wenn sie weiterfragte, stellte er sich stur. Er hatte zu tun. »Ich habe zu tun«, sagte er. »Zu tun, zu tun, zu tun. Was soll ich da erklären weiter?« Zu tun, zu tun, zu tun? Für wen hielt Edek sich, für Rupert Murdoch etwa?
Ruth konnte sich nicht erklären, warum sie das verstimmte. Hatte sie sich nicht monatelang inbrünstig gewünscht, Edek hätte etwas zu tun? Und zwar mehr, als täglich in ihr Büro zu kommen und ihr nicht von den Fersen zu weichen? Hatte sie sich nicht inbrünstig gewünscht, er hätte ein Hobby oder ein Interesse oder Gesellschaft? Sie hätte nicht verstimmt sein dürfen. Sie hätte sich freuen sollen. Statt dessen war sie verstimmt.
Ruths Mobiltelefon klingelte. Es war Zelda. Ruth freute sich, von Zelda zu hören.
»Kannst du sprechen, Roo?« fragte Zelda.
»Ja«, sagte Ruth. »Ich warte im Second Avenue Deli auf Grandpa.«
»Schon wieder im Second Avenue Deli«, sagte Zelda, »das kann nicht wahr sein. Da wäre mittlerweile sogar mir übel, und ich esse gern dort. Hat Grandpa sich verspätet?«
»Nur ein bißchen«, sagte Ruth.
»Grandpa verspätet?« sagte Zelda überrascht. »Der Gedanke, sich zu verspäten, macht ihn doch so nervös. Noch nervöser als dich.«
»Ich weiß«, sagte Ruth. »Mein Bedürfnis nach Pünktlichkeit ist wesentlich gemäßigter.«
»Nicht dein Bedürfnis nach Pünktlichkeit«, sagte Zelda, »sondern dein Bedürfnis, zu früh zu kommen. Du bist immer zu früh da. Deshalb mußten wir als Kinder zehn Stunden auf dem Flughafen warten, bis wir ins Flugzeug steigen konnten. Du hast Garth bei jedem Flug eine falsche Abflugzeit genannt. Es hat Jahre gedauert, bis er dir auf die Schliche gekommen ist, und als er es wußte, fand er es lustig.«
»Schon gut, Zelda, können wir bitte über etwas anderes sprechen? Außerdem habe ich mich enorm gebessert.«
»Sooo enorm nicht«, sagte Zelda. »Du rufst noch oft genug von irgendeinem Flughafen an, weil du dich langweilst. Das sind die einzigen Gelegenheiten, bei denen du dich langweilst.«
Warum waren ihre Kinder so streitlustig? Sowohl Zelda als auch Zachary führten Streitgespräche so lange weiter, bis ihr Widerpart klein beigab, meistens vor Erschöpfung. Kate war
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