Chuzpe: Roman (German Edition)
wenn er sich immer noch für Schokoladenwaffeln von Wedel interessierte.
Drittes Kapitel
Ruth nahm sich den Ordner vor, der auf ihrem Schreibtisch lag. Er trug die Aufschrift »Beispiele für direkte Texte«. Direkte Texte hatte Ruth ihre Glückwunschkartenabteilung genannt. Es waren schmucklose Karten. Für diese Karten benutzte Ruth farbiges Papier. Sie wählte Papier in verschiedenen Farben aus, in verschiedenen Größen und von verschiedener Textur. Die Karten bestanden nur aus Farbe und Format. Nichts lenkte von ihrer Beschriftung ab. Keine Muster, keine Illustrationen, keine Schleifen, keine Cutouts. Es ging ihr darum, den Text durch Farbe, Größe und Textur des Papiers zu betonen und zu verstärken. Und der Text sollte einen Sinn haben. So vieles im Leben hatte keinen Sinn. So vieles, was Leute zueinander sagten, hatte nichts zu bedeuten.
Es war überraschend schwer zu sagen, was man empfand. Für jeden. Das war vermutlich der Grund für den Erfolg von Rothwax Correspondence. Die Leute wollten vermitteln, was sie empfanden. Sie wollten mit anderen in Verbindung treten. Das, was Glückwunschkarten im großen und ganzen an zwischenmenschlicher Verbindung schufen, war hohl, antiseptisch und klischeebeladen. Als wären die Karten mit einem gefühlsabtötenden Reinigungsmittel behandelt worden. Die Karten, die Mitgefühl ausdrücken sollten, waren soallgemein gehalten, daß man mit ihnen zu einem Flecken an der Wand über dem Sofa hätte kondolieren können. Geburtstagskarten waren unter dem Vorwand des Humoristischen herzlos, deprimierend, erniedrigend und kränkend. Die Karten, die sich an Frauen richteten, handelten allesamt von Falten und hängenden Brüsten und davon, daß man dankbar sein solle, noch am Leben zu sein. Die Karten für Männer hatten Schmerbäuche, Zahnlosigkeit und Haarverlust zum Sujet.
Auf der Geburtstagskarte, die Ruth soeben entworfen hatte, stand:
NUTZEN SIE IHRE AKTIVA
Und im Innenteil der Karte war zu lesen:
Leistung, Intelligenz und Reife sind auf ihrem Höhepunkt. Alles Gute zum Geburtstag.
Ruth hoffte, daß diese Karte Kunden aller Altersstufen ansprechen würde. Sie beabsichtigte, sie in vier verschiedenen Farben anzubieten. Das Papier und die Farben auszuwählen war das Schöne an der Arbeit. Papier hatte Ruth schon immer geliebt. In Melbourne war sie jeden Tag nach der Schule vor einer Kartonagenfabrik in der Nicholson Street in Carlton stehengeblieben und hatte zugesehen, wie Kartons und Papierabfälle zusammengepackt und gestapelt wurden. Sie liebte das Geräusch, das beim Schneiden von Karton entstand, und den Geruch.
Sie hatte ein wunderschönes Orange – gebranntes Siena – für eine Scheidungskarte ausgesucht, an der sie gerade arbeitete. Scheidungskarten waren unüblich, obwohl fünfzig Prozent aller Ehen mit einer Scheidung endeten. Diese Statistik war seit Jahren mehr oder weniger unverändert. Es gab Glückwunschkarten für den Erwerb einer neuen Katze und für Zahnspangen, aber es war schier unmöglich, eine Kartezu finden, auf der das Thema Scheidung angesprochen wurde. Ruths Karte besagte:
EINE SCHEIDUNG FÜHLT SICH AN WIE DAS ENDE
Vergessen wir nicht, daß sie auch ein Anfang ist
Ruth beschäftigte sich gern mit den Karten. Es hatte etwas sehr Befriedigendes, etwas mit möglichst wenig Wörtern auszudrücken. Am Vorabend hatte sie lange an zwei Karten gearbeitet.
DAS RICHTIGE IST DAS, WAS FÜR DICH RICHTIG IST
Was für Dich richtig ist, ist auch das Richtige für Deine Umgebung
Die andere Karte trug die Aufschrift:
SELBSTSÜCHTIG IST EIN DUMMES WORT
Es ist gesund, an sich selbst zu denken
Sie mußte ihre Karten der Marketingabteilung der kleinen Firma vorlegen, die ihre Karten vertrieb. Sie hatte eine Vorahnung, daß »Selbstsüchtig ist ein dummes Wort« nicht durchgehen würde. Aber Ruth hatte schon immer gefunden, daß das Wort »selbstsüchtig« ein schwammiger, aussageschwacher Begriff war. Er war allzu dehnbar. So wie das Wort »faul«. Die Beliebtheit dieser beiden Wörter hatte sie nie verstehen können.
Edek, der mit Max geplaudert hatte, kam in Ruths Büro. Er beugte sich über ihre Schulter und las laut und in beinahe offiziellem Ton: »Was für Dich richtig ist, ist auch das Richtige für Deine Umgebung.« Er schwieg. »Das wird für dich werden ein Minenfeld«, sagte er.
Ruth erschrak. »Was soll die Leute daran stören?«
»Ich habe nicht gesagt, daß Leute sollen sich daran stören«, sagte Edek. »Ich habe gesagt, es wird sein
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