Chuzpe: Roman (German Edition)
meine Mutter neben mir in der Kabine ist hysterisch vor Angst, mein Vater könnte hinunterfallen. Das war die Fahrt in unseren ersten Urlaub in Australien. Wir fuhren zu Chaskel Rollers Gästehaus in Hepburn Springs. Ich war acht Jahre alt. Ich war schrecklich aufgeregt. Es war so aufregend zu verreisen.«
»Ich glaube, es würde dir hier gefallen«, sagte Garth. »Der Fluß würde dir sicher gefallen. Du magst Flüsse.«
»Das stimmt«, sagte Ruth. »Solange sie nicht zu weit von der nächsten Klinik, Polizeiwache und Einkaufsmöglichkeit entfernt sind.«
Garth lachte. »Liebste, ich glaube, ich verabschiede mich jetzt. Ich weiß, daß du dich mit deinem Dad unterhalten möchtest.« Ruth warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatten fast zehn Minuten lang miteinander gesprochen. Für Garth war das ziemlich lange.
»Ich rufe dich bald wieder an«, sagte Garth.
»Wann?« fragte sie. »Ich meine, ungefähr wann, nicht genau wann.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Garth. »Es ist für mich nicht immer so einfach zu telefonieren.«
»Kannst du mir nicht ungefähr sagen, wann du vermutlich in der Lage sein wirst, mich anzurufen?« fragte Ruth. »Meinst du, vielleicht morgen? Oder nächste Woche? Nächsten Monat? Nächstes Jahrtausend?«
»Mach mir bitte kein schlechtes Gewissen«, sagte Garth.
»Entschuldige bitte«, sagte Ruth. »Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.«
Wenige Sekunden nachdem sie aufgelegt hatte, klingelte ihr Handy wieder. Ruth sah auf dem Display, daß es ihr Vater war.
»Dad, wo steckst du?« sagte sie. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Du bist doch sonst immer pünktlich.«
»Oj, Ruthie, es tut mir schrecklich leid. Ich wußte, daß du würdest dir machen Sorgen, aber ich war in der Subway und konnte dich nicht anrufen.«
»Wo bist du denn jetzt?« fragte Ruth.
»Zu Hause«, erwiderte Edek.
»Zu Hause?« sagte Ruth. »Ich warte im Second Avenue Deli auf dich. Warum bist du nicht hergekommen?«
»Ich hatte Sachen dabei, was ich mußte bringen in meine Wohnung«, sagte Edek.
»Schon gut«, sagte Ruth. »Wie lange brauchst du, um herzukommen?«
»Ruthie, Liebling, ich habe dich angerufen, um dir zu sagen, daß ich heute abend nicht kann kommen in das Second Avenue Deli«, sagte Edek.
»Du kannst nicht kommen?« sagte Ruth. »Und warum nicht?«
»Ich habe zu tun«, sagte Edek.
»Du hast zu tun?« sagte Ruth. »Und was hast du zu tun?« fragte sie.
»Nichts Besonderes«, antwortete Edek.
»Und was ist nichts Besonderes?« fragte Ruth und merkte, daß sie nervös wurde.
»Nichts Besonderes, weiter nichts«, sagte ihr Vater. »Was normale Leute tun.«
»Kannst du mir ein Beispiel nennen?« sagte Ruth.
»Ruthie«, sagte Edek, der jetzt verärgert klang, »es ist nichts Besonderes, fertig. Es ist nichts Besonderes, wenn man hat zu tun. Ich habe zu tun. So wie du. Ich habe zu tun. Ich habe zu tun mit Sachen, wie sie tun normale Leute, fertig.«
Was war los mit ihrem Vater? War irgend etwas nicht in Ordnung? Fehlte ihm Australien? Er wirkte nicht traurig. Nicht einmal gedämpfter Stimmung. Er machte seine Gymnastik. Vor wenigen Tagen noch hatte sie ihn danach gefragt. Gymnastik war, abgesehen von allen anderen wohltuenden Wirkungen, für das seelische Wohlbefinden wichtig. Ruth wußte das. Sie hätte nicht sagen können, wie es um ihr seelisches Wohlbefinden stünde, wenn sie keine Gynmastik machte. Wahrscheinlich war das gar nicht auszudenken. Sie bezahlte einen persönlichen Fitneßtrainer dafür, daß er dreimal in der Woche eine Stunde lang in einem Fitneßstudio an der Second Avenue in der Nähe von Edeks Wohnung Übungen mit ihm machte. Sogar in Australien hatte Edek mehr als drei Jahre lang einen persönlichen Fitneßtrainer gehabt.
»Natürlich mache ich meine Übungen«, sagte Edek. »Das bringt mich noch um.«
»Trainierst du auch fleißig auf dem Laufband?« fragte sie.
»Sowieso«, sagte er.
»Und wie sieht es mit Gewichtheben aus?« fragte Ruth.
»Sowieso, sowieso«, hatte Edek gesagt. »Sowieso hebe ich die Gewichte. Deshalb bin ich ja jeden Tag halb tot. Ich muß mit meinen Armen und mit meinen Beinen diese Sachen hochheben. Ich muß Sachen schieben und Sachenziehen, was kein Mensch muß normalerweise schieben und ziehen. Der junge Mann verlangt das alles von mir. Und warum mache ich das alles mit? Weil meine Tochter das will.«
Diese Beschwerden war Ruth gewohnt. Edek hatte sie regelmäßig von Australien aus erhoben. Ruth sah, daß der Akku ihres Mobiltelefons
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