Chuzpe: Roman (German Edition)
ihr zu eng geworden. Zu eingleisig. Sie kreiste zu sehr um Zofia und Walentyna.
»Ich weiß nicht«, sagte Ruth. »Es hat etwas mit der Art zu tun, mit der sie sich in Polen auf meinen Vater gestürzt hat.«
»Warum sollen Frauen das nicht tun?« sagte Sonia. »Und woher willst du wissen, wer sich auf wen gestürzt hat?«
»Ich war dabei, als sie sich kennengelernt haben«, sagte Ruth. »Ich saß mit ihm im Hotel Mimosa in Krakau beim Frühstück. Ich habe gesehen, wie sie ihn angestarrt hat.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wo das Problem liegt«, sagte Sonia. »Sie macht einen unabhängigen und unkomplizierten Eindruck. Ich finde, sie sind beide mutige, abenteuerlustige und tapfere Frauen. Es kann für zwei Witwen nicht so leicht sein, ihre Heimat zu verlassen und in die Fremde zu ziehen.«
»Woher weißt du, daß sie Witwen sind?« fragte Ruth.
»Das hat dein Vater mir erzählt«, sagte Sonia.
Warum hatte die Bezeichnung »zwei Witwen« einen Beigeschmack von Raubtier? Als sollte ein Schild vor ihnen hergetragen werden, das besagte: »Vorsicht, Witwen«, ähnlich den Schildern, die vor bissigen Hunden warnten. Witwer standen in einem anderen Ansehen. Zwei Witwer lösten völlig andere Assoziationen aus. Zwei Witwer machten den Eindruck einer bezaubernden, anziehenden, möglicherweise wünschenswerten Partie.
Ruth seufzte. Offenbar hatte jedermann aus ihrem Umfeld Zofia und Walentyna kennengelernt. Sonia war Edek, Zofia und Walentyna auf der 13th Street in der Nähe des Quad Cinema über den Weg gelaufen. Sonia war auf dem Weg zu einem Mandanten gewesen, und Edek kam mit den zwei Frauen aus dem Kino.
»Dein Vater machte einen sehr glücklichen Eindruck«,sagte Sonia. »Er sah nicht aus, als würde es ihn stören, daß man sich auf ihn stürzt.«
»Ich hatte das Gefühl, daß sie mit ihrer Attacke ein bestimmtes Ziel verfolgte«, sagte Ruth. »Sie kam mir vor wie ein Raubtier.«
»Ein Raubtier?« sagte Sonia. »Als schwesterliche Solidarität kann ich deine Ansichten beim besten Willen nicht interpretieren.«
»Ich klinge wie eine echte Frauenhasserin, stimmt’s?« sagte Ruth. Sie schämte sich fast ein bißchen.
»Du klingst verwirrt«, sagte Sonia. »Erst behandelst du deinen Vater wie ein kleines Kind. Du willst Hobbys für ihn finden und ihn in Clubs anmelden. Und jetzt benimmst du dich, als wäre er ein Halbwüchsiger mit schlechtem Umgang. Dein Vater ist alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen.«
»Ich glaube, diese Brüste haben ihm einen seelischen Schwinger versetzt«, sagte Ruth.
»Und was soll daran schlimm sein?« sagte Sonia. »Warum sollen ihre Brüste ihm nicht einen Schwinger versetzen, ihn zum Schwingen bringen, mit ihm schwingen und mit ihr schwingen, wohin auch immer. Oder wann auch immer.«
»Puh«, sagte Ruth. Warum mußte Sonia unbedingt das Bild von Zofias schwingenden Brüsten heraufbeschwören? Die schwingend die Erde umschlangen, schwingend Edek umschlangen?
»Ich glaube, im tiefsten Herzen bist du prüde«, sagte Sonia.
Hatte Sonia »prüde« gesagt? Oder »rüde«? fragte sich Ruth. Keines der beiden Wörter konnte man als Kompliment auffassen. Sie nahm an, daß Sonia »prüde« gesagt hatte.
»Du hast recht, schwesterlich ist das nicht gerade«, sagte Ruth zu Sonia.
»Nein«, sagte Sonia. »Du hörst dich nicht an wie eineKämpferin, die die Gleichberechtigung der Frauen einfordert. Du hörst dich nicht an wie jemand, der Frauen zusammenbringen will, damit sie Kraft und Einfluß durch Einigkeit erlangen. Du hörst dich an wie eine Zicke. Wie eine gehässige Zicke.«
Ruth traute ihren Ohren nicht. Warum nannte Sonia sie eine Zicke? Eine Zicke war zweifellos schlimmer, als prüde zu sein. Oder rüde. Und eine gehässige Zicke war noch schlimmer. Eine gehässige prüde Zicke, das war der Gipfel.
Sonias Mobiltelefon klingelte. »Es ist Michael, ich gehe raus«, sagte Sonia, die aufstand und den Tisch verließ.
»Was meinen Sie, ob Lesbierinnen Penissen negative, positive oder indifferente Gefühle entgegenbringen?« sagte ein gutgekleideter Mann Mitte dreißig zu seinem Freund. Beide sahen aus wie Banker oder Börsenmakler. Sie saßen an der Bar.
Ruth sah sie an und runzelte die Stirn. Es kam ihr wie eine sehr dumme Frage vor. Was für Schlüsse sollte man daraus ziehen, ob eine Gruppe von Frauen, lesbisch oder heterosexuell, Penisse mochte? Und was sollte eine Frage über Penisse im allgemeinen? Kein Mensch dachte über Penisse als solche nach. Oder
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