Chuzpe: Roman (German Edition)
Stelle waren, ihren Eltern schicken konnten. Eine Karte, die man einem Mitbewohner schicken konnte oder einem Partner. Für Karten dieser Art gab es eine Marktlücke.
SOLANGE ICH NOCH EMSIG BÜFFLE
Danke ich Euch für Eure Hilfe
Normalerweise waren ihre Kartentexte nicht gereimt. Sie mochte keine Reime. Aber manchmal waren sie unumgänglich. Mit dieser Karte war Ruth nicht recht glücklich. Der Ton war anders als bei ihren anderen Karten. Sie wußte, daß er frech war. Sie hoffte, er würde ehrlich klingen. Und sie hoffte, er würde nicht selbstgefällig klingen. Sie hatte beschlossen, für diese Karte weniger teures Papier zu benutzen. Wer wollte schon dabei erwischt werden, edles Papier zu kaufen, wenn jemand anders die Miete bezahlte? Die Karte sollte auch weniger kosten als andere ihrer Karten.
Ruths Karten mit direktem Text hatten einen eigenen Kartenständer. Sie waren nicht mit den anderen Karten vermischt. Die Ständer konnte man auf Theken oder Regalen anbringen. An allen vier Seiten der weißen Ständer war die Inschrift »Direkte Texte« in hellgrauen Lettern eingeprägt. Ruth hatte lange gebraucht, um ein Weiß zu finden, das nicht zu grell war. Ein Weiß, das einladend aussah. Und vornehm. Inzwischen hatte Ruth zwölf Karten in Umlauf. Eine ihrer neuesten Kreationen lautete:
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!
Ihr Erfolg macht alle glücklich
und wurde bereits nachbestellt. Ruth hatte oft Schuldgefühle, auf eine so luxuriöse und bequeme Weise Geld zu verdienen. Sie mußte nicht den ganzen Tag stehen oder Kisten tragen oder einem Chef Rapport erstatten. Sie mußte sich nicht monatlich oder vierteljährlich oder halbjährlich evaluieren lassen. Sie saß in ihrem eigenen Büro und fügte Wörter zusammen.
Sie hatte sich nach Zimmern zur Untermiete für Zofia und Walentyna umgesehen. Edek hatte gesagt, daß sie eine Wohnung suchten. Ruth war sich nicht sicher, wer mit »sie« gemeint war. Sie hoffte, daß dieses spezifische »sie« nicht Edek einbezog. Edeks Worte waren doppeldeutig. Sie konnten bedeuten,daß alle drei nach einer Wohnung suchten. Sie konnte aber auch bedeuten, daß die Wohnung, nach der sie suchten, für alle drei gedacht war. In diesem Fall wäre das Wort »sie« der Angelpunkt des Satzes. Ruth dachte sich, daß eine Untermietgelegenheit für sechs Monate das Richtige wäre. Dann mußten Zofia und Walentyna kein Geld für eigene Möbel ausgeben. Und müßten nicht länger in New York bleiben, als sie vorgehabt hatten oder vorhaben konnten. Ruth hatte sich am Ostende des East Village umgesehen. In der Gegend der Avenue D. Diese Gegend war noch nicht völlig gentrifiziert. Ruth hatte sich bei der schüchternen Hoffnung ertappt, daß die Gegend abstoßend wirken würde. Sie hatte versucht, diese unfreundliche Hoffnung zu unterdrücken. Sie redete sich ein, daß sie die Gegend ausgewählt hatte, weil sie noch preiswert war.
An der Avenue D hatte sie gerade ein Untermietangebot ausfindig gemacht, als Edek ihr verkündete, daß sie eine Wohnung gefunden hatten. Ruth war mit Edek, Zofia und Walentyna im Ukrainian East Village Restaurant an der Second Avenue essen gegangen. Zofia und Walentyna liebten das Ukrainian East Village Restaurant.
»Das Gulasch hier ist sehr, sehr gut«, sagte Zofia. »Sie haben sehr, sehr gute Piroggen«, sagte Edek. »Alles ist sehr, sehr gut«, sagte Walentyna.
Edek sah selbst sehr gut aus, dachte Ruth. Ihr fiel auf, daß er ein neues Hemd anhatte. Und eine neue Hose. Edek kaufte nie freiwillig Kleidung. Das mußte Zofia ausgesucht haben. Edek mußte man mehr oder weniger zwingen, neue Kleidung zu kaufen. Ruth fragte sich, wieviel Gewalt Zofia hatte anwenden müssen.
Bis dahin hatte Ruth sich davor gedrückt, mit Zofia und Walentyna essen zu gehen. Und das bedeutete, daß sie ihren Vater auch nicht oft gesehen hatte. Walentyna strahlte Edek an, während sie aß. Zofia tat es ihr gleich. Ruth sah Walentynaan. Sie trug eine weiße Bluse mit einem runden Kinderkragen und Ärmeln, die an der Schulter gerafft waren. Ein breiter Besatz aus Nylonspitze verdeckte die Knopfleiste. Der Spitzenbesatz war fast so breit wie Walentynas schmächtiger Körper. Er machte sie noch schmächtiger, als sie war. Die Bluse thronte auf einem weiten Rock mit Blumenmuster in gedeckten Farben. In dieser Kleidung verschwand Walentyna fast. Sie sah nicht aus, als wäre ihr diese Kleidung peinlich oder unangenehm. Sie schien sich in dieser Kleidung eindeutig wohl zu fühlen. Zofia trug einen
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