Chuzpe: Roman (German Edition)
Telefon bekommen hatten, als Ruth sechs oder sieben Jahre alt gewesen war. Er sagte immer: »Bitte.« Selbst wenn er mit ihr oder Garth oder einem ihrer Kinder sprach. Edek kam wieder an den Apparat. »Ich habe den Namen von dem Restaurant aufgeschrieben, weil Zofia hat gesagt, du würdest sicher das Essen in diesem Restaurant mögen.« Er schwieg; wahrscheinlich war er damit beschäftigt, seine Handschrift zu entziffern, was nicht so einfach war. Was wiederum daran liegen konnte, daß er alles mit sehr kleinen Buchstaben in ein sehr kleines Notizbuch schrieb, das er in der Tasche stecken hatte. Diese Art Notizbuch benutzte er seit Jahren. Es war das üblichekleine Notizbuch mit Spiralbindung, das man in allen Schreibwarenläden und Supermärkten finden konnte. Wenn er ein Notizbuch vollgeschrieben hatte, übertrug er einige unverzichtbare Einzelheiten in das nächste Notizbuch und warf das alte weg. Ruth wünschte oft, er hätte alle Notizbücher aufbewahrt. Es wären Hunderte gewesen.
»Das Restaurant, wo wir haben gegessen, heißt Rectangles«, verkündete Edek.
Ruth schlug zu. »Rectangles ist kein neues Restaurant«, sagte sie in dem Ton, in dem herzlose Eltern ihrem Kind demonstrieren, daß sie es ertappt haben – beim Lügen oder bei einer Dummheit. »Rectangles gibt es seit Jahren«, sagte sie. »Es ist gegenüber dem Second Avenue Deli. Nicht weit von deiner Wohnung.«
»Ja«, sagte Edek. Er klang kleinlaut.
»Du bist aufgeregt, Ruthie«, sagte Edek nach ein paar Sekunden. »Ich höre es an deiner Stimme.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte sie.
»Du bist aufgeregt«, sagte Edek. »Du bist wahrscheinlich aufgeregt wegen Zofia und Walentyna.«
»Nein«, sagte Ruth.
»Ich glaube aber, das bist du«, sagte Edek. »Warum macht dich das aufgeregt?« fragte er.
Ruth wußte keine Antwort. Sie hatte keine Antwort. Sie wußte selbst nicht genau, warum Zofias und Walentynas Ankunft sie so nervös machte. Aber sie hatte den Eindruck, im Recht zu sein mit ihrer Nervosität.
In Polen hatte sie beobachtet, wie Zofia Edek nachgestellt hatte. Unverhohlen und erfolgreich. Allmählich, dachte Ruth, klang ihre Wortwahl, als müsse sie ein Broadway-Stück zusammenfassen. Ruth hatte geglaubt, Zofia los zu sein, als sie und Edek aus Polen abreisten. Aber es hatte ganz den Anschein, als wäre das nicht der Fall. Sie hatte den Eindruck gehabt, Zofia und möglicherweise auch Walentynahätten ihren Vater ausgenutzt, obwohl sie nicht hätte sagen können, wie.
»Zofia und Walentyna sind sehr nette Menschen«, sagte Edek, »und sie sind gekommen nach New York. Was ist der Schmonzes dabei, was dich macht daran so aufgeregt?«
»Wovon wollen sie leben?« fragte Ruth.
»Sie haben ein bißchen Geld«, sagte Edek. »Und ich werde greifen ihnen unter die Arme.«
Ruth hakte nach. »Du willst ihnen unter die Arme greifen?« sagte sie. »Aber ich unterstütze dich doch.«
»Dann du wirst uns unterstützen alle drei«, sagte Edek. »Du kannst dir das leisten.«
Fünftes Kapitel
Ruth hatte mehrere Nächte nicht richtig geschlafen. Sie merkte, daß ihre Konzentration nachzulassen begann. Sie versank in Tagträume, wie sie Zofia und Walentyna loswerden könnte, statt über ihre Briefe nachzudenken. Sie saß an ihrem Schreibtisch und versuchte, einen Kondolenzbrief aufzusetzen. Sie fühlte sich müde. Und empfand Selbstmitleid. Der Brief, den sie aufsetzte, wurde sekündlich trauriger. Sie las ihn. Kondolenzschreiben mußten sehr mitfühlend sein und die Tragödie und Unermeßlichkeit des Verlusts angemessen würdigen. Aber zugleich mußten sie Mut machen. Etwas Ermutigendes aussagen. Der Brief, den Ruth gerade verfaßte, war zum Weinen kummervoll. Er war so traurig, daß er den Empfänger wahrscheinlich wünschen lassen würde, er wäre selbst tot.
Sie war gerade damit beschäftigt, diesem Kondolenzbrief etwas Optimismus, etwas Hoffnung einzuträufeln, als an die Tür geklopft wurde und Zelda erschien.
»Hi, Roo«, sagte Zelda. »Ich dachte, ich komme mal kurz vorbei und sage hallo. Ich habe dich ewig nicht gesehen. Und ich war gerade um die Ecke beim Zahnarzt.«
Ruth stand auf und begrüßte Zelda mit einem Kuß. Zelda roch immer gut. Sie roch immer wie frisch gewaschen. Selbst wenn sie das nicht war. Ruth küßte Zelda ein zweites Mal.Ruth liebte Zeldas glatte Gesichtshaut. Und Zeldas Mähne rotgoldenen Haars. Und Zeldas blaue Augen. Wie alle Juden faszinierte es Ruth, ein blauäugiges Kind zu haben.
»Wie geht es dir,
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