Chuzpe: Roman (German Edition)
nervös. Große Neuigkeiten von Edek zu diesem Zeitpunkt konnten keine guten Neuigkeiten sein, soviel war klar.
»Ruthie, Ruthie, kannst du mich hören?« rief Edek.
»Ja, Dad, ich kann dich hören«, sagte sie.
»Ich kann dich auch hören, Ruthie«, sagte er. »Ich habe sehr große Neuigkeiten.«
»Und was?« sagte Ruth, allmählich gereizt.
»Ich habe gefunden ein Örtchen, was ist perfekt geeignet für ein Restaurant«, sagte Edek.
»Du hast was?« sagte Ruth.
»Ich habe gefunden ein Örtchen«, sagte Edek. »Ich war mit Zofia und Walentyna unterwegs, und wir haben es gefunden.«
Wie konnten sie einen Ort für ihr Restaurant gefunden haben? Wußten sie nicht, daß so etwas Geld kostete? Von Geld war bisher nicht die Rede gewesen. Geld für einen Ort? Geld für Edeks Wort? Geld für einen Ford? Oder ein Küchenbord? Die Geldfrage war mit keiner Silbe angesprochen worden.
»Es ist in der Attorney Street«, sagte Edek.
Ruth kannte die Attorney Street. Es war ein Sträßchen, das von der Stanton Street abging. Nur Minuten von Zofias, Walentynas und Edeks Wohnung entfernt. Die Attorney Street war eine ausgesprochen unauffällige Straße.
»Ruthie, willst du dich mit uns treffen, um zu besprechen das Örtchen?« sagte Edek.
Vielleicht würde eine Besprechung der Örtlichkeit zu einer Besprechung der Geldfrage führen, dachte Ruth.
»Wann wäre es euch recht?« fragte Ruth.
»Jetzt gleich?« sagte Edek. »Wäre dir das recht?«
»Muß es wohl«, sagte Ruth.
»Es hat keinen Sinn, sich zu treffen an dem Örtchen, weil der Laden ist geschlossen«, sagte Edek. »Wollen wir uns treffen in Noah’s Ark?«
»Können wir uns bei Brown treffen?« fragte Ruth. »Bei Brown kann ich einen Salat essen.«
»Sowieso«, sagte Edek. »Wo ist Brown?«
»Es ist in derselben Straße wie Gertel’s Bakery«, sagte Ruth. »In der Hester Street zwischen Ludlow Street und Essex Street. Näher bei Ludlow als bei Essex.«
»Okay«, sagte Edek.
»Ich gehe zu Fuß«, sagte Ruth. »Ich komme also in zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten. Ich gehe über die Attorney Street.«
»Der Laden hat die Nummer 102«, sagte Edek. »Er sieht nicht besonders gut aus, Ruthie, aber Zofia sagt, daß es ist besser, daß er sieht nicht so gut aus.«
Ruth fragte sich, ob Zofia dachte, daß man für wenig einladende Mieträume weniger Miete bezahlen müsse. Oder ob sie vorhatte, eine einfache, bodenständige, unambitionierte Fleischklopsimbißbude einzurichten.
»Du wirst sehen unser Örtchen«, sagte Edek. »Es ist ein Laden, was ist zwischen zwei Autowerkstätten.«
Ein Lokal zwischen zwei Autowerkstätten klang nicht gerade nach einer Traumlage, dachte Ruth. Sie war überzeugt, daß der Laden nicht mit diesen Worten angepriesen worden war.
»Wir haben uns schon getroffen mit dem Besitzer«, sagte Edek. »Er ist ein sehr netter Bursche.« In Ruths Kopf drehte sich alles. Sie hatten einen Laden gefunden und sich mit dem Besitzer getroffen, der ein netter Bursche war. Ein sehr netter Bursche. Für wen hielt Edek sich, für Prinz Philip? Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Prinz Philip einen Laden besichtigte, der zwischen zwei Autowerkstätten eingezwängt war.
Ruth ging durch die Lower East Side. Es wimmelte von Passanten. Die Straßen waren voller Leben um Läden und Stände herum. Ausgenommen die Attorney Street. Sie war menschenleer. Niemand war dort zu sehen. Kein einziges Auto. Der betreffende Teil der Attorney Street war kurz. Er umfaßte einen Häuserblock zwischen East Houston Street und Stanton Street. Es gab einen Gemischtwarenladen mit einem Angebot von alkoholischen Getränken, Desinfektionsmitteln, Spülmitteln, Süßigkeiten, Plätzchen und Toilettenpapier. Auch in diesem Laden herrschte Leere. Schräg gegenüber sah Ruth Edeks »Örtchen«. Das leere Geschäft war nicht unbedingt zwischen zwei Autowerkstätten eingezwängt. Dieser Begriff klang zu sehr nach Beengtheit. Der Laden wirkte nicht beengt, sondern schlicht fehl am Platz. In einer der Autowerkstätten wurde gearbeitet. Ruth konnte einen halben Automechaniker sehen. Die andere Hälftedes Mannes steckte unter einem Auto. Die Werkstatt auf der anderen Seite von Edeks Örtchen war geschlossen. Ruth fragte sich, was man in Edeks Örtchen verkaufen konnte. Schraubenschlüssel? Wagenheber? Autozubehör? Reifenpannenwerkzeug? Reifenpannen schien es nicht mehr zu geben, dachte sie. In ihrer Kindheit hatten dauernd Leute am Straßenrand Reifen gewechselt. Ruth dachte sich,
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