Chuzpe
Kaiserhaus meinte wohl, auf die slawischen Provokationen reagieren zu müssen …“
„Welche slawischen Provokationen denn? Du bist ja der imperialistischen Propaganda ordentlich aufgesessen, Kieberer. Den Krieg hat natürlich Österreich verschuldet. Das habsburgische Imperium wollte den Freiheits- und Einheitsdrang der südslawischen Völker mit Gewalt unterdrücken. Das ist die Ursache des Krieges!“
„Ach wirklich?“ Bronstein tat erstaunt.
„Wirklich“, fuhr Jelka fort. „Im Laufe des vorigen Jahrhunderts hat sich bei den südslawischen Stämmen ob der ökonomischen Entwicklung eine nationale Bourgeoisie herausgebildet.Und ein Bürgertum strebt zwangsläufig danach, ökonomische Hemmnisse zu beseitigen. Dementsprechend standen die südslawischen Völker alsbald im Kampfe gegen Fremdherrschaft, Unterdrückung und nationale Zersplitterung. Es brauchte in Jugoslawien eine bürgerliche Revolution, um die feudalen Herrschaftsverhältnisse am Balkan zu überwinden. Da aber Österreich-Ungarn neben den Türken am meisten von diesen alten Verhältnissen profitierte, musste der ökonomische Kampf zwangsläufig auch zu einem nationalen Ringen werden.“
„So habe ich das bisher gar nicht gesehen“, gab Bronstein zu. „Das heißt, die Slowenen und die Kroaten, die waren von uns unterdrückt?“
„Natürlich waren sie das. Die Südslawen sind überhaupt ein gutes Beispiel …“
Kisch beugte sich, während Jelka noch sprach, zu Bronstein hinüber und flüsterte: „Die Jelka ist nämlich selbst Slawin, jetzt wirst einiges lernen.“
Jelka sah kurz irritiert auf Kisch, fuhr dann aber fort: „Die Slowenen waren schon seit dem neunten Jahrhundert an ihrer nationalen Entfaltung grundlegend gehemmt worden, da sie ab diesem Zeitpunkt von deutschsprachigen Feudalherren unterjocht wurden. Slowenisch war nur noch die Sprache der Bauern und später der Dienerschaft. Als im Zuge der Reformation die Slowenen ihre eigene Schriftsprache entwickeln wollten, da wurden diese Versuche durch die deutschen Herren mit gnadenloser Härte unterdrückt. Den serbischen und kroatischen Brudervölkern erging es nicht besser.“
Bronstein blickte unsicher zwischen den Männern hin und her. Kisch und Koritschoner beschränkten sich auf ein bedächtiges Nicken, während Werfel gleich Bronstein ratlos wirkte.
Jelka aber achtete nicht auf ihr Publikum, sondern redete unbeirrt weiter. „Erst das allmähliche Entstehen einer Arbeiterklasse trug dazu bei, diese völlig willkürliche Teilung undUnterdrückung zu überwinden. Die Arbeiter wissen, dass alle Slawen Brüder sind, egal, welcher Mundart sie sich bedienen. Und das hat schließlich auch die südslawische Bourgeoisie erkannt, wenn diese auch völlig andere Zwecke als das Proletariat verfolgt. Für das Haus Habsburg war die Vereinigung der südslawischen Stämme zu einem jugoslawischen Volk natürlich eine existenzielle Bedrohung, und daher drängte der Generalstab schon lange vor dem Attentat auf den Irren aus Konopischt auf einen Krieg am Balkan. Die Wiener Kamarilla wollte unbedingt verhindern, dass die Südslawen sich aus den Ketten der Fremdherrschaft befreien. Die Südslawen hatten die Kämpfe des italienischen Risorgimento studiert. Noch war die Vereinigung zu einer Nation nichts als eine Idee, aber wenn die Bedingungen reif sind, dann wird eine Idee zur unüberwindlichen Gewalt. Und das zeigte sich ja dann auch im Krieg, als es den Österreichern viele Monate lang nicht gelang, das kleine Serbien in die Knie zu zwingen.“
Kisch hatte schon geraume Zeit Probleme gehabt, Jelka unbefangen zuzuhören. Alles in ihm, so schien es Bronstein, drängte zum Widerspruch. Nun konnte Kisch nicht länger an sich halten und fiel Jelka ins Wort.
„Deine Theorien hinsichtlich der Südslawen sind fraglos äußerst interessant. Aber du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, dass sich das Schicksal Österreichs am Balkan entschieden hat. Der entscheidende Fehler der österreichischen Bourgeoisie war es, den Tschechen keinen angemessenen Anteil an der Macht einzuräumen. Dadurch drängte sie die tschechische Bourgeoisie an die Seite des tschechischen Proletariats, und ohne die tschechischen Industriereviere kann ein Kaisertum Österreich nun einmal nicht bestehen.“
„Sag bloß, du hältst Masaryk, Beneš und Kramař für Revolutionäre“, ließ sich Koritschoner nun vernehmen.
„Für Revolutionäre wider Willen“, führte Kisch aus. „Die Entwicklung in Böhmen und Mähren
Weitere Kostenlose Bücher