Chuzpe
Bronstein sicher. Womit sollte man denn eine Stadt mit zwei Millionen Menschen versorgen? Mit den paar erbärmlichen Kühen, die auf irgendeiner Tiroler Weide standen? Vor allem, wer sagte denn, dass die Tiroler nicht dem Beispiel der Slawen und der Ungarn folgten? Was blieb denn noch von Österreich, wenn sich Galizien und Lodomerien, Ungarn, Dalmatien und Siebenbürgen, Kroatien, Krain und die Küstenlande, das Banat und die Batschka, Böhmen, Mähren und Schlesien, Tirol und Salzburg von ihm lossagten? Die Jugoslawen würden sich Kärnten und die Steiermark holen, immerhin standen ihre Truppen, wie es hieß, schon in Radkersburg und Völkermarkt. Ober- und Niederösterreich, ein bizarrer Puffer zwischen dem Reich und der neuen Tschechoslowakei! Mit einer solchen Landmasse mochten die Babenberger einst das Auslangen gefunden haben, heute hatte ein solcher Zwergstaat keinerlei Existenzberechtigung. Wenn das österreichische Volk überleben wollte, dann durfte es seine Provinzen nicht verlieren!
„Bronstein, alter Bazi, du bist so still heute! Ist dir was?“ Kisch war anscheinend trotz der hitzigen Debatte aufgefallen, dass Bronstein nur schweigend am Tische saß. Dieser hätte ihm gerne entgegnet, wie sehr es ihn anwiderte, wie hier über das Hinscheiden des Vaterlandes, dem er seit er denken konntestets treu gedient hatte, gesprochen wurde! Wie degoutant er es finde, dass man angesichts der trostlosen Lage nicht ein Mindestmaß an Pietät aufbringe! Wie weltfremd diese Diskussionen waren, wie sehr sie an den wirklichen Problemen der Menschen vorbeigingen! Die Damen und Herren Revolutionäre faselten etwas von Klassenkampf, Neubeginn und Freiheit, während die einzige Freiheit der Menschen darin bestand, hungers zu sterben oder zu erfrieren! Doch wozu sollte er seinem alten Freund mit solchen Worten kommen? Er würde ihn nicht verstehen, und die anderen würden ihn dann einfach für einen in der Wolle gefärbten Monarchisten, einen Reaktionär halten. Kein Wunder, würden sie sagen, Kieberer bleibt Kieberer. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing! Und das würde er nicht auf sich sitzen lassen wollen, weshalb er sich dann doch auf ein Streitgespräch einlassen müsste. Und dazu hatte er weder die Zeit noch die Kraft. Also sah er Kisch einfach nur an, machte ein betrübtes Gesicht und sagte: „Ich mache mir wirklich Sorgen um meinen alten Herrn. Er sieht echt schlecht aus.“ Aus Kischs Augen sprach Mitgefühl, und selbst die feurige Slawin verzichtete auf eine spitze Bemerkung. Bronstein nutzte das eingetretene Schweigen, um seinen Abgang vorzubereiten.
„Ich muss dann auch wirklich wieder los. Es war sehr interessant, Sie kennenzulernen, und ich hoffe, man sieht sich bald wieder.“ Damit erhob er sich und reichte zuerst Werfel und dann Koritschoner die Hand, die auch beide ergriffen. Danach wandte er sich Jelka zu und zögerte einen Augenblick, nicht wissend, wie er sich akzeptabel von ihr verabschieden sollte. Sie ergriff die Initiative und hielt ihm ihre Hand hin: „Das hoffe ich auch“, sagte sie und zeigte den Ansatz eines Lächelns. Bronstein war angenehm berührt und wagte einen Blick in ihre Augen. „Ich wäre sehr erfreut“, murmelte er.
„Morgen um acht an diesem Tisch“, sagte sie leichthin.
„Wirklich?“ Bronstein war verblüfft.
„Aber ja. Ich wollte immer schon einen echten Kieberer kennenlernen. Ist mal was Neues.“ Bronstein bemühte sich, seine Freude über diese Worte nicht allzu offensichtlich werden zu lassen. „Na dann, bis morgen, Genossin“, antwortete er, von der Festigkeit seiner Stimme ehrlich überrascht. Um die Magie des Augenblicks nicht selbst gleich wieder zu zerstören, tat er so, als sei diese Verabredung eine Selbstverständlichkeit. „Egonek“, sagte er daher und breitete seine Arme aus. Dieser ignorierte denn auch das eben Vorgefallene und umarmte den Freund. „Bis bald, alter Knabe, bis bald.“ Bronstein deutete nochmals eine leichte Verbeugung an und entfernte sich sodann aus dem Lokal.
Wieder auf der Straße, blickte er auf die Uhr. Es war beinahe Mittag geworden, und tatsächlich zeigte sich am Himmel ein Hauch von Sonnenschein. Doch der eisige Wind, der durch die Gassen pfiff, ernüchterte ihn schnell wieder. Und doch konnte er nicht umhin, glücklich zu sein. Das markante Grinsen wollte aus seinem Gesicht nicht verschwinden. Er hatte die erste Verabredung seit Kriegsbeginn. Und die noch dazu mit einer so beeindruckenden Frau wie Jelka. Auf der Freyung
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