Chuzpe
vorwitzigen Kommentar nicht verkneifen konnte. „Nicht dass du mir den Kaiser stürzt, während ich weg bin.“ Dabei bemühte er sich um ein breites Lächeln.
„Na, schau’n wir einmal“, gab Jelka neckisch zurück.
Bronstein überlegte, was er nun noch Geistreiches in die Welt schicken konnte, doch da ihm partout nichts einfiel, das er für witzig oder originell halten konnte, beschränkte er sich auf ein lakonisches „Bis am Abend dann“.
Jelka nickte nur und wandte sich dann wieder ihrem Schreiben zu. Bronstein blieb noch einen Augenblick stehen und fixierte dabei ihre Gestalt, als wollte er sich jede Einzelheit ihres Körpers ganz tief ins Gedächtnis einprägen, dann machte er kehrt und verließ die Wohnung. Vor dem Haustor schlug ihm eisige Kälte entgegen. Instinktiv zog er den Mantel enger zu und den Kragen hoch. Er rieb die Hände gegeneinander, hielt sie sodann vor den Mund und hauchte sie mehrmals an, ehe er sie in den Taschen verschwinden ließ. Er überquerte eilig den Platz und lief dann förmlich dem Ring entgegen, um auf diese Weise gleichsam der Kälte zu entkommen.
Doch nur allzu bald musste er erkennen, dass er nicht mehr in der Form der Kriegstage war. Er hatte noch nicht einmal den Donaukanal erreicht, als er schon heftig zu keuchen begann. Seitenstechen machte sich bemerkbar und zwang ihn dazu, langsamer zu gehen. Just dort, wo der eisige Wind mangels Widerstandes durch allfällige Gebäude besonders heftig tobte. Der Kanal war bereits teilweise zugefroren, und nicht einmal die Enten, die ihn sonst bevölkerten, ließen sich blicken. Bronstein war froh, das Kriegsministerium zu erreichen, denn diesem gegenüber befand sich ein Café, in das er nun regelrecht flüchtete. Um sich etwas aufzuwärmen, bestellte er trotz der frühen Stunde einen Tee mit doppeltem Rum, und da in einer Vitrine einige Kipferln ausgestellt waren, orderte er auch ein solches dazu. Gemeinsam mit zwei Zigaretten würde dies ein akzeptables Frühstück ergeben, sagte er sich.
Während er auf das Bestellte wartete, fiel ihm der Stapel mit Zeitungen auf, der neben dem Tresen aufgeschichtet war. Zuoberst lag die „Wiener Zeitung“, sein Leib- und Magenblatt, sodass er nicht zögerte, die Ausgabe an sich zu nehmen. Der Titelseite entnahm er, dass am Vortage im Budgetsaal des Abgeordnetenhauses der neue oberste Befehlshaber der deutsch-österreichischen Wehrmacht von Präsident Seitz angelobt wordenwar. Bronstein hielt inne. War das nicht schon die Revolution? Das amtliche Organ des Staates bezeichnete die Nummer zwei der oppositionellen Sozialdemokraten ganz formell als „Präsidenten“, als wäre das Land bereits eine Republik. Und der kaiserliche Reichsrat stellte diesem Präsidenten für sein Treiben auch noch seine Amtsräume zur Verfügung. Noch vor wenigen Monaten hätten derartige Ungeheuerlichkeiten glatt als Hochverrat gegolten, jetzt aber stieß sich offenbar niemand mehr daran. Für ihn, Bronstein, hieß das wohl, dass er bald auf ein neues Staatsoberhaupt vereidigt werden würde. Doch als Beamten konnte es einem eigentlich rechtschaffen egal sein, wer an der Spitze des Landes stand. Ob Kaiser, Präsident oder Volkskommissar, eines würde sich nie ändern: In der Verwaltung gab es keine Demokratie. Der jeweilige Vorgesetzte entschied, die Untergebenen hatten zu gehorchen. Das war schon im Feudalismus so gewesen, und das würde auch in Jahrhunderten noch so sein, egal, wie viele gesellschaftliche Systeme dazwischen kommen und wieder gehen würden. Also zerbrach man sich über derlei Dinge besser gar nicht erst den Kopf.
Und Bronstein blätterte um. In Deutschböhmen war die Lage offenbar nach wie vor ernst. Erneut versuchte der Außenminister der neuen Regierung für einen Verbleib dieser Region bei Österreich zu intervenieren, doch die Tschechen verspürten sichtlich wenig Lust, ein so wichtiges Gebiet einfach aus ihrem Staatsverband zu entlassen. Warum auch, die neue Regierung des Herrn Renner war sichtlich noch einflussloser als die alte des Herrn Lammasch. Das zeigte sich auch an dem peinlichen Appell des neuen Innenministers Mataja, von dem einige aberwitzige Kollegen im Präsidium behaupteten, er sei nun der oberste Chef der Polizei, die Wiener Bevölkerung möge die Gasnot und die damit verbundenen Engpässe beim elektrischen Strom akzeptieren. Und da es nichts zu essen gebe und auch keine Kohle, möge man, so der Herr Mataja, den Verbrauchdrosseln. Der Trottel hatte leicht reden. Der saß in
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