Chuzpe
seinem gut geheizten Büro und ließ sich mit einem „Gräf und Stift“ durch die Stadt kutschieren, während die Wienerinnen und Wiener nicht wussten, wie sie über die Runden kommen sollten. Da verstand man ja sogar die Revolutionäre! Auch Bronstein hatte nicht übel Lust, dem sauberen Herrn Innenminister das Wägelchen zu konfiszieren, denn mit einem Automobil war der Weg in die Favoritenstraße nachgerade ein Katzensprung. Da er aber nur ein einfacher Polizist war und kein Politiker, würde er den weiten Weg zu Fuß machen müssen. Eine Erkenntnis, die nach einem weiteren Rum verlangte. „Noch an Doppelten!“, belferte der Major.
Die Stadt Wien, so erfuhr er beim Fortsetzen der Lektüre, suchte Wohnungen für die zahlreichen Rückkehrer aus allen Teilen der Monarchie. Das würde in der Tat ein Problem werden, dachte auch Bronstein. Wien hatte sich schon bisher nicht durch ein Überangebot an Wohnungen ausgezeichnet, und durch die Niederlage im Kriege würden mit einem Schwung zehntausende Österreicher aus Krakau, Tarnopol, Czernowitz, Agram, Triest und unzähligen anderen Garnisons- und Verwaltungsstädten nach Wien zurückkehren. Wenn er also tatsächlich nach Margareten übersiedeln wollte, dann sollte er sich damit besser beeilen, denn in wenigen Wochen würden die Mietpreise ins Unerschwingliche steigen.
Die nächste Seite der Zeitung wusste von zahllosen Einbrüchen und Plünderungen zu berichten, deren die Polizei kaum noch Herr werde. Kein Wunder, sagte sich Bronstein, wenn die Ordnung auseinanderbrach, dann brach sich eben auch das Verbrechen Bahn. Er war sich sicher, dass sich die meisten Täter nie zu solchen Aktionen hätten hinreißen lassen, wenn sie nicht die allumfassende Not in derart große Verzweiflung gestoßen hätte. Das änderte freilich nichts an der Illegalität der Handlungen, aber dennoch musste man solchenÜbeltätern anders gegenübertreten als notorischen Verbrechern, die aus purer Verworfenheit ein übles Leben führten. Zu diesem Thema passte ein weiterer Artikel, der sogleich Bronsteins Aufmerksamkeit erregte. Am Vortag war die Köchin Franziska Pschandl vor Gericht gestanden. Er erinnerte sich noch gut an den Fall, der noch gar nicht so lange her war. Man hatte die Pschandl aus der Donau gefischt, in der sie sich samt ihrer Tochter hatte ertränken wollen. Das Kind war dabei zu Tode gekommen, denn im Gegensatz zur Mutter hatte es nicht mehr rechtzeitig gerettet werden können. Die Mutter war, so erinnerte sich Bronstein, seinerzeit vom Vater des Kindes sitzengelassen worden, sodass sie es allein hatte aufziehen müssen. Nach Jahren hatte sie endlich einen neuen Galan gefunden, der sie allerdings ebenfalls geschwängert hatte. Als sich nun auch dieser Herr aus dem Staub gemacht hatte, sah die arme Köchin keinen anderen Ausweg mehr, als ins Wasser zu gehen. Gegen seinen expliziten Rat hatte die Staatsanwaltschaft Mordanklage gegen die Pschandl erhoben. Er hatte argumentiert, dass die arme Frau ohnehin gestraft fürs Leben war, denn damit leben zu müssen, das eigene Kind auf dem Gewissen zu haben, war für jede Mutter die Hölle auf Erden. Aber der Staatsanwalt war ein ganz ein Eifriger gewesen und hatte der Pschandl zu jenem Tod verhelfen wollen, den zu bekommen ihr selbst nicht gelungen war. Die Geschworenen, so erfuhr Bronstein jetzt, waren weniger herzlos gewesen als der Jurist. Sie verurteilten die Pschandl nur wegen versuchten Mordes zu drei Jahren Kerker. Auch das würde die Hölle sein, dachte Bronstein. Aber die Hölle würde die Pschandl ohnehin niemals aus ihren Klauen lassen.
Was war das nur für eine Welt, in der man zu leben gezwungen war? „Herr Ober, noch einen Doppelten!“
„Sind Sie sich sicher, Herr Kommerzienrat? Das wär dann schon der dritte.“
Bronstein funkelte den Kellner an. „Zählen kann ich selber“, zischte er und besah sich angewidert das vertrocknete Backwerk, das ihm zum Tee serviert worden war. Wenn es schon keine feste Nahrung mehr gab, dann musste man sich eben an flüssige halten. Der Ober machte einen Rückzieher. „Ich hab ja nur g’meint“, maulte er und griff zur Flasche. Bronstein zündete sich eine weitere Zigarette an und wandte sich wieder der Zeitung zu. Die berichtete doch tatsächlich noch über den Krieg. Die Alliierten hätten, so gab das deutsche Oberkommando bekannt, versucht, bei Sedan und Valenciennes Durchbrüche zu erzielen, doch sei es der Wehrmacht gelungen, den Gegner in beiden Fällen zurückzuwerfen.
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