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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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Mariahilfer Straße brachte. Er war überrascht, dass er für diese Wegstrecke kaum länger als zwanzig Minuten gebraucht hatte, und so setzte er seinen Weg kurz entschlossen Richtung Josefstadt fort.
    Als er die Lerchenfelder Straße erreichte, spürte er, wie seine Beine schwer wurden. Gegenüber der noch relativ jungen Backsteinkirche erblickte er ein kleines Café, und in dieses flüchtete er nun, um ein wenig zu verschnaufen. Auf dem Weg zu einem freien Tisch stach ihm der Stapel mit den Zeitungen vom Tage ins Auge, und er erinnerte sich daran, noch keine Nachrichten eingeholt zu haben. Er zog die „Wiener Zeitung“ hervor und begab sich damit zu einem Sitzplatz. Nachdem er einen Tee mit Rum geordert hatte, denn nur mit Rum war die Kriegsmischung, die seit geraumer Zeit den herkömmlichen Tee ersetzte, trinkbar, widmete er sich der Titelseite des Blattes. Gleich zu Beginn war zu lesen, dass der neue Justizminister die Beamtenschaft seines Ressorts vereidigt hatte. „Ich habe Ihnen das Gelöbnis der Treue abzunehmen. Es hat lediglich provisorische Kraft und ist für die endgültige Regelung Ihres Dienstverhältnissesnicht bindend“, hatte der Minister bei dieser Gelegenheit erklärt. Was sollte denn das bedeuten? Hier war es ja sichtlich zu einem vollkommen sinnlosen Akt gekommen. Die Beamten waren auf die Monarchie und damit auf den Kaiser vereidigt. Jetzt sollten sie also erneut Treue schwören. Doch wem? Welchem Staat, welcher Regierungsform? Das alles wussten offenbar selbst die regierenden Politiker nicht, und solange diese entscheidenden Fragen nicht geklärt waren, konnte man doch auch niemandem ein Gelöbnis abverlangen. Sicher, wenn die Monarchie wie in Deutschland abgeschafft werden würde, müsste man die Staatsdiener auf die Republik vereidigen. Doch die gab es ja noch nicht. Und nur weil sich vielleicht Teile des Staates von diesem abspalteten, wurde der alte Eid noch nicht obsolet. Das war wieder eine typisch österreichische Lösung: Man getraute sich nicht, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen, aber man tat einmal so, als täte man etwas. Und das natürlich nur unter Vorbehalt und bis auf Widerruf. Man musste sich direkt genieren, österreichischer Beamter zu sein.
    Ärgerlich las Bronstein weiter. Die neue Regierung verfügte, dass den Beamten ihre Kriegsjahre auf die Dienstzeit angerechnet werden würden. Das wäre ja noch schöner, wenn man dafür, dass man für Gott, Kaiser und Vaterland geblutet hatte, auch noch Nachteile im Berufsleben in Kauf nehmen sollte, dachte Bronstein. Vier Jahre, das waren zwei Bienniensprünge. Hätte man diese den Beamten abgesprochen, dann wäre der Staat von einem Tag auf den anderen zusammengebrochen, denn so viel stand nun einmal unverrückbar fest: Ohne den Beamtenapparat würde auch in Zukunft nichts, aber auch schon gar nichts funktionieren in diesem Land.
    Bronstein blätterte um und erfuhr, dass für Hungernde Verköstigungsstellen eingerichtet werden würden. So weit war man also schon gekommen, dass die Bürger einer Großmacht um Suppe anstehen mussten. Entwürdigend! Es war zu hoffen, dassfür dieses Desaster jemand zur Rechenschaft gezogen wurde, und wenn es der Kaiser selbst war. Bronstein spülte verärgert den Tee hinunter und orderte – wer brauchte schon dieses fragwürdige Kraut – einen doppelten Rum ohne Tee. Dann zündete er sich eine weitere Zigarette an.
    Die Sicherheitswache würde ehemalige Soldaten aufnehmen, hieß es in der nächsten Spalte. Unteroffiziere würden bevorzugt. Na das konnte was werden. Bronstein sah es förmlich vor sich: Irgendwelche abgehalfterten Kasernenhoftyrannen trotteten verbittert durch die Straßen und suchten nach einem Opfer, an dem sie sich für die Widrigkeiten ihres Schicksals rächen konnten. Mit dem Ausbildungsniveau der Wiener Polizei stand es ohnehin nicht zum Besten, doch mit diesen Exsoldaten würde es noch weiter bergab gehen. Er konnte nur hoffen, in seiner Abteilung von derartigen Zuteilungen verschont zu bleiben.
    Dafür konnte er sich aber darüber freuen, dass eine Ankündigung die Wiederaufnahme des Straßenbahnverkehrs ab Betriebsbeginn des 11. November verhieß. Wenn dies tatsächlich der Wahrheit entsprach, konnte er schon ab dem nächsten Tag wieder zur Arbeit fahren, denn die Linie 43 war unter jenen aufgelistet, die ab dem Folgetag wieder verkehren sollten. Auch die Linie 1, die am Ring kreiste, sollte wieder aktiviert werden, was Bronsteins Fußsohlen eine nicht geringe

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