Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
Vom Netzwerk:
Karmeliterkirche schlug neunmal. Bronstein trat ans Fenster und sah auf den Platz hinab, der völlig verlassen dalag. Niemand wagte sich unter solchen Wetterbedingungen auf die Straße. Feiner Schneeregen fiel herab, dazu blies ein harter Wind, der an den Fenstern rüttelte. Der Major verstand, warum Bären Winterschlaf hielten.
    Hinter ihm schien in Jelka Bewegung zu kommen. Er drehte sich zu ihr um. Sie rieb ihre Augen und richtete sich langsam auf. Ihre betörenden Brüste wurden sichtbar und erweckten in Bronstein umgehend das Bedürfnis, erneut in Jelkas Arme zu sinken. „Guten Morgen, du Schöne“, sagte er sanft.
    „Morgen“, antwortete sie und gähnte gleich danach herzhaft. Sie streckte beide Arme weit von sich, sodass die Haare in ihren Achselhöhlen zu erkennen waren. „Wie spät ist es?“, wollte sie schließlich wissen.
    „Kurz nach neun“, klärte er sie auf.
    „Na, dann wird es Zeit für ein Frühstück.“ Nackt wie sie war, stieg Jelka aus dem Bett und verschwand gleich darauf in der Küche. Bronstein nutzte die Gelegenheit und rauchte sichdie zweite Zigarette des Tages an. Aus der Küche drangen plätschernde Geräusche an sein Ohr, die darauf hindeuteten, dass Jelka sich wusch, und als sie Augenblicke später ins Zimmer zurückkam, da glänzte ihre Haut tatsächlich. Sie entnahm ihrem Kasten ein frisches Handtuch und trocknete sich ab. Dann suchte sie sich neues Gewand zusammen und zog sich an. Bronstein registrierte einen langen Rock und eine weiße Bluse, die für seinen Geschmack viel zu hochgeschlossen war. „Ist noch Tee da?“, fragte Jelka in seine Richtung. Er bejahte. Jelka schenkte sich eine Tasse ein und trank einen ersten Schluck, ehe sie wieder in die Küche ging und dort offensichtlich in irgendwelchen Kästchen kramte. Es vergingen einige Minuten, dann kehrte sie mit einem großen Teller zurück, auf dem Brot, Butter und etwas Käse lagen. „Das habe ich gestern organisiert“, sagte sie stolz. „Die Soldatenräte haben die Offiziersmesse des Arsenals gestürmt und alles mitgenommen, was dort an Lebensmitteln gehortet gewesen war. Das haben sie dann unter den anderen Räten aufgeteilt. Ich habe ein Achtel Butter und 30 Deka Käse ergattert. Du kannst mir glauben, die Versuchung war groß, beides sofort zu verzehren, aber dann dachte ich, wir könnten es gemeinsam verputzen, und so habe ich es für heute aufgehoben. Immerhin ist heute Sonntag.“
    Bronstein lächelte. Schön, klug und auch noch gewitzt. „Ein Butterbrot mit Käse!“, rief er, das habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen.“
    Als die Turmuhr dreimal schlug, war der Teller vollkommen leer, sie hatten rein gar nichts übrig gelassen. Jelka war zufrieden und steckte sich eine Zigarette an: „Und was wirst du heute so machen?“
    „Witzig, dass du das fragst. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Normalerweise würde ich in den Wienerwald gehen, doch bei dem Wetter sollte man von einem solchen Vorhaben eher Abstand nehmen.“
    „Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst“, sagte sie leichthin und blies wieder Rauch aus.
    „Das wäre sehr nett. Vor allem, solange das Wetter so garstig ist. Vielleicht hast du etwas zu lesen für mich?“
    Jelka überlegte kurz und stand dann auf. Sie ging zu ihrem Büchergestell und zog einen Band heraus, den sie Bronstein neben seine Teetasse legte. Freiligrath, las er. Er nahm das Buch an sich und schlug es auf.
    „Das war ’ne heiße Märzenzeit, trotz Regen, Schnee und alledem! Nun aber, da es Blüten schneit, nun ist es kalt trotz alledem! Trotz alledem und alledem, trotz Wien, Berlin und alledem, ein schnöder, scharfer Winterwind durchfröstelt uns trotz alledem“, las er laut vor und sah dabei Jelka an. „’48?“
    Sie nickte und zitierte dabei: „,Das ist der Wind der Reaktion, mit Mehltau, Reif und alledem! Das ist die Bourgeoisie am Thron, der annoch steht, trotz alledem.‘ Das ist eines seiner besten Gedichte. Aber ich denke, passender sind heute jene Verse, die zehn Seiten weiter zu finden sind.“
    Bronstein folgte dieser Anweisung und blätterte in dem Buch nach vor. Er erkannte, welches Poem sie meinte, und las laut vor: „Die Republik, die Republik, Herrgott, das war ein Schlagen. Das war ein Sieg aus einem Stück! Das war ein Wurf, die Republik.“
    Und wieder griff sie seine Rezitation auf, um fortzufahren: „Wohlan denn, Rhein und Elbe! Donau wohlan, die Republik! Die Stirnen hoch, hoch das Genick! Euer Feldgeschrei dasselbe: die Republik,

Weitere Kostenlose Bücher