Chuzpe
Entlastung bieten sollte.
Auf Seite 5 kündigte man das Theaterprogramm an. Am Dienstag spielte das Burgtheater Wildes „Ein idealer Gatte“, und am Freitag wurde „Maria Stuart“ von Friedrich Schiller gegeben. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals, der ihm bedeutete, er sollte wieder einmal ins Theater gehen. Schiller war ein Dichter, der offenbar auch Jelkas Zustimmung fand, und so mochte nichts dagegen einzuwenden sein, Jelka zu fragen, ob sie sich dieses Stück nicht mit ihm ansehen wolle, denn gerade „Maria Stuart“ bot doch sicher mannigfach Gelegenheitzur historischen Analyse. Er wiederum konnte sich von einer intellektuellen Seite zeigen, und das, so hoffte er, würde den gewünschten Eindruck auf Jelka nicht verfehlen. Er memorierte Tag und Uhrzeit der Aufführung und blätterte frohgemut weiter.
Auf den Seiten 7 und 8 folgten die Inlandsnachrichten, wenn man die Monarchie noch als Inland verstand. Südtirol, so erfuhr er, war mittlerweile fast vollständig von den Italienern besetzt, Bozen, Meran und Brixen waren gleichfalls vom Gegner eingenommen worden, und das nur fünf Tage nach der ruhmlosen Kapitulation in der Villa Giusti. In Brünn war der mährische Landeshauptmann Graf Serenyi zurückgetreten, am Samstag hatten schon die Tschechen unter ihrem Anführer Pluhar die Macht in Mähren übernommen. Auch dieses Land war, wie es schien, für Österreich verloren. In Krakau wiederum war der langjährige Klubobmann der sozialdemokratischen Fraktion im Reichsrat, Ignaz Daszynski, zum Premierminister eines wiedererstandenen Staates ernannt worden, der sich selbst den Namen „Volksrepublik Polen“ gegeben hatte. Daszynski kündigte an, man wolle ehebaldigst Wahlen zu einem polnischen Parlament auf der Basis des gleichen, geheimen, direkten und unmittelbaren Wahlrechts abhalten. Nach den Tschechen und den Südslawen gingen also auch die Polen. Aber durfte man es ihnen denn verübeln? Jahrzehntelang hatte man den Slawen die Gleichberechtigung vorenthalten, die man den Ungarn einräumte, da war es kaum verwunderlich, wenn sie in der Monarchie nicht ihre Heimat sahen. Österreich büßte schrecklich für die Fehler seiner Politiker, aber das war ja nichts Neues. Irgendwie, so dachte Bronstein, war die Politik viel zu kompliziert, um sie den Politikern zu überlassen. Da waren Fachleute gefragt, die nicht irgendwelchen angeblichen Volksstimmungen nachgaben, sondern taten, was in einer bestimmten Situation erforderlich war. Politiker, zumindest jene, die er aus eigener Anschauung kannte, waren immer irgendwie Opportunisten, die nur danachtrachteten, ihre eigene Karriere zu befördern. Auf diese Weise war in Österreich seit den Zeiten des Grafen Taaffe stets nur fortgewurstelt worden.
Doch um Deutschland stand es nicht viel besser, erfuhr Bronstein auf den folgenden Seiten. Allerorten bildeten sich weiterhin Arbeiter- und Soldatenräte, welche die Macht übernahmen. Sogar in gutbürgerlichen Städten wie Stuttgart oder Rosenheim gab das Proletariat den Ton an. Tatsächlich konnte Bronstein nun auch in seiner Zeitung lesen, dass besagter Liebknecht, den Jelka erwähnt hatte, am kaiserlichen Schloss die rote Fahne gehisst hatte. Auch vom Brandenburger Tor wehte das rote Banner. Und dass ausgerechnet der Führer der SPD die Leute aufforderte, die Straße zu verlassen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen, sprach wohl für sich. Mitunter hatte die Göttin der Geschichte schon einen eigenartigen Humor.
Am Ende des Blattes fand Bronstein die Gerichtsberichte. Abermals waren mehrere Preistreiber und Schieber verurteilt worden. Noch im Namen des Kaisers, wie Bronstein feststellte. Die Strafen waren nachgerade obszön niedrig, durchwegs Verurteilungen zu ein paar Wochen Gefängnis für Leute, welche die Mitbürger bewusst ins Elend kommen ließen, um sich selbst zu bereichern. Bronstein meinte, derlei Kerle müssten viel härter angefasst werden, doch vermutlich gehörten sie alle zur herrschenden Schicht im Lande, und eine Krähe hackte bekanntlich der anderen kein Auge aus. Angewidert legte Bronstein die Zeitung weg. Wer hätte sich vor vier Jahren gedacht, dass alles ein derart entwürdigendes Ende nehmen würde? Eigentlich war es besser, gar keine Zeitung mehr zu lesen, denn sonst musste man sich fragen, wie viele niederschmetternde Nachrichten man verkraftete. Bronstein beschloss, nicht länger an das Unheil der Welt zu denken, sondern seine Sinne nach Jelka auszurichten. Wer konnte sagen, ob er ihr je
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