Chuzpe
„Liebe Freunde“, ergriff er neuerlich das Wort, „der gute Nemeth hat fraglos recht, wenn er die Ungerechtigkeiten dieser Welt geißelt. Aber dafür müssen wir Gott, Kaiser und Vaterland verantwortlich machen. Der Spitzer da hat von dieser Ordnung ohne Zweifel profitiert, aber er hat diese Ordnung nicht gemacht. Wie ihr wisst, bin ich Polizist, und als solcher habe ich eine jahrelange Erfahrung mit Verbrechern. Die meisten von ihnen sind nicht gerade das, was man einen guten Menschen nennen würde. Und der Spitzer ist das auch nicht, da sind wir uns ja wohl alle einig. Aber der Leumund eines Menschen darf nicht die Entscheidung darüber beeinträchtigen, ob dieser Mensch nun ein bestimmtes Verbrechen begangen hat oder nicht. Bleiben wir also bitte sachlich. Die Frage, die ihr … die wir uns stellen, ist, ob der Spitzer, da er uns damals so rücksichtslos in einen sinnlosen Sturmangriff zwang, Strafe verdient, und wenn ja, welche. Alle anderen Fragen sollten wir uns für den Moment aufheben, da an Spitzers Stelle Karl der Letzte da sitzt.“
„Gut“, schmunzelte Andrinović, „richten wir ihn nicht für millionenfachen Mord, sondern nur für dreihundertfachen Mord. Was, lieber Bronstein, ist dafür der Strafrahmen in eurem Gesetz?“ Bronstein wusste, warum Andrinović ihn angrinste.Es machte keinen Unterschied, ob einer zehn oder zwanzig oder noch mehr Menschen umgebracht hatte, nach den geltenden Gesetzen war für ein derartiges Delikt jedenfalls die Todesstrafe vorgesehen. Und ein Milderungsgrund für Spitzers Tat mochte sich schwerlich finden. Doch Mord war eben nicht gleich Mord. Das Problem lag ja genau darin begründet, dass Spitzer nicht einfach zur Waffe gegriffen und 320 Menschen getötet hatte, sondern dass er im Rahmen eines Krieges, der von allen Seiten als gerecht apostrophiert worden war, einen Befehl erteilt hatte, der in der Folge zum Tod von 320 Menschen führen sollte.
Doch Bronstein war klar, dass eine derartige Spitzfindigkeit die Männer kaum überzeugen würde. Spitzers Tat würde nirgendwo auf der Welt als ein Verbrechen angesehen werden. Das wäre wohl nicht einmal dann der Fall, wenn er befohlen hätte, ein Dorf auszulöschen, sodass die Toten Zivilisten gewesen wären. Selbst das würden die Gerichte als Kollateralschaden abtun. Im Rahmen der herrschenden Ordnung durfte man das Tun Spitzers nicht in Frage stellen, da man sonst diese Ordnung an sich in Frage stellen würde. Und das taten eben nur die Kommunisten, die sich in unversöhnlichem Gegensatz zur bürgerlichen Herrschaft befanden.
Bronstein befand sich in einem tiefgreifenden Zwiespalt. Einerseits anerkannte er, auch aus der persönlichen Erfahrung heraus, die Rechtmäßigkeit der Empörung der Männer. Doch andererseits war er viel zu lange Diener dieses Staates gewesen, um das Faktum vergessen zu können, dass bürgerliches Recht und Moral zwei einander ausschließende Begriffe waren. Stellte er sich also auf die Seite der Männer, dann musste er eigentlich die Konsequenzen ziehen und seinen Posten als Beamter niederlegen, denn dann stand er nicht mehr auf dem Boden jener Rechtsordnung, auf die er einen Eid abgelegt hatte. Diese Erkenntnis wog schwer auf Bronsteins Schultern, und er hatte mit einem Mal das Gefühl, die Vorwürfe, welche die Männer anSpitzer richteten, betrafen, wenn auch in viel kleinerem Ausmaß, auch ihn. Seit er in die Reihen der Wiener Polizei eingetreten war, hatte er immer wieder Befehle ausgeführt, die ihm nicht korrekt vorgekommen waren. Er erinnerte sich daran, zu Beginn seiner Laufbahn oftmals bei der Delogierung irgendwelcher ins Elend gekommener Arbeiter mitgeholfen zu haben, deren einziges Vergehens es gewesen war, den Zins nicht mehr zahlen zu können, weil sie ein skrupelloser Unternehmer entlassen und ein ebenso skrupelloser Hausherr auf seinem vermeintlichen Recht bestanden hatte. Wie oft hatte er Landstreicher in Arrestzellen gesteckt und damit ihre Abschiebung bewirkt, bloß, weil sie in ihrer Verzweiflung außerhalb ihres Heimatortes Arbeit gesucht hatten. Ihm fielen ausgemergelte Kinder ein, die er, mit Tränen in den Augen zwar, aber dennoch, eingesperrt hatte, weil sie in ihrer Hungersnot Lebensmittel gestohlen hatten.
Die Rechtsordnung war eine komische Sache, befand Bronstein. Wenn man das Recht auf seiner Seite wusste, dann konnte man den Leuten in großem Stil das Geld aus der Tasche ziehen, wie das etwa mit den Kriegsanleihen geschehen war, die nun nur noch als
Weitere Kostenlose Bücher