Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
Vom Netzwerk:
unglaubliche Traurigkeit in seinen Augen. Er schrieb pausenlos. Und er erzählte uns, dass er nur deswegen bei der Armee gelandet war, weil die Trottel bei der Stellung nicht verstanden hatten, was er ihnen gesagt hatte. Das Attest, das seine beginnende Tuberkulose bezeugte, war ihnen egal gewesen. Der Junge könnte jetzt Advokat sein, oder Zeitungsschreiber, wer weiß. Und stattdessen ist er tot. Er hat von Anfang an gewusst, dass er an der Front sterben würde.Aber euch da auf eurem Feldherrenhügel war das egal. Einer mehr oder weniger, darauf kommt es euch doch nicht an. Aber jetzt, wo ihr genug von uns gemordet habt, jetzt trefft ihr euch irgendwo auf ein kultiviertes Palaver und einigt euch darauf, dass das alles eigentlich gar nicht stattgefunden hat. Während irgendwo in einem einsamen Feld die Knochen des Jungen aus Brody verfaulen.“
    „Ja“, knurrte Nemeth, der Ciorbeas Schilderung bewegt gefolgt war, „ich erinnere mich gut an diesen schmächtigen Burschen. Er konnte keinen Mehlsack schleppen, und trotzdem war er unendlich viel mehr wert als ihr ganzes Offiziersgeschmeiß.“ Er wandte sich an die anderen: „Ich weiß nicht, Kameraden, weshalb wir hier noch ewig herumreden. Jagen wir diesem Dreckschwein ein paar Kugeln in seinen feisten Wanst und requiescat in pace.“
    Bronstein registrierte allgemeine Zustimmung, und er sah niemanden, der bereit war, den Kommandanten auch nur ansatzweise zu verteidigen.
    „Leute“, hörte er sich plötzlich sagen, „Ruhe, Leute, Ruhe! Hört mir zu. Ihr habt ja recht. Dieser Kerl ist ein Schwein. Er ist es wegen der schweinischen Verbrechen, die er begangen hat. Aber wäre es nicht ebenso ein Verbrechen, wenn wir ihn jetzt einfach umbrächten? Würden wir dadurch nicht genau so sein, wie er es war?“
    Tatsächlich schienen die Männer nachdenklich zu werden. Es war just Spitzer selbst, der ihren Zorn aufs Neue anfachte: „Sie miese Kreatur“, zischte dieser Bronstein an, „Sie waren Leutnant und machen gemeinsame Sache mit denen da. Sie sind eine Schande für die Uniform, die Sie getragen haben.“
    „Halt’s Maul, du Schwein!“, schrie ihn Müller an. „Wenn da wer eine Schande ist, dann bist das du. Und zwar eine Schande für die ganze Menschheit! Du und dein Scheißgeneralstab. Euch sollte man allen den Prozess machen und euch anschließendaufhängen. Ihr habt diesen Krieg aus den niedrigsten Motiven geführt, die man sich vorstellen kann! Ihr habt Millionen von Menschen geopfert, nur damit ein paar Banditen noch mehr zusammenrauben können! Der Krieg, heißt es immer, ist eine noble Sache, und es sei ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben. Diesen Blödsinn haben sich irgendwelche Geldsäcke ausgedacht, um ihre niedrigen Ziele zu verfolgen. Kein französischer Bauer hat mir je Leid angetan, kein russischer Muschik mein Heim bedroht, kein Italiener mir ans Leben gewollt. Und dann seid ihr gekommen, ihr widerlichen Verbrecher, und habt Zwietracht gesät zwischen den Völkern. Ihr, die ihr uns immer schon bis aufs Blut gequält habt. Vor tausend Jahren waren wir eure Sklaven, vor hundert Jahren eure Leibeigenen, und jetzt müssen wir uns in euren Fabriken zu Tode schuften, wenn wir nicht für euch auf irgendwelchen Schlachtfeldern krepieren. Ihr erzählt uns etwas davon, dass die Engländer, die Russen, die Belgier unsere Feinde wären, und dann stellt sich heraus, dass der deutsche Kaiser mit dem König der Engländer und dem Zaren von Russland verwandt ist, und unser Kaiser mit dem belgischen König. Na, die werden alle ganz furchtbar miteinander verfeindet sein! Ein kleiner Familienzwist, der halt unglücklicherweise Millionen Menschen das Leben kostet. So ein Pech aber auch.“
    „Ach, was wisst denn ihr von Politik“, murmelte Spitzer.
    „Genug, um zu wissen, dass wir betrogen wurden! All die Jahre! Verraten und verkauft! Vom Kaiser, von den Politikern und von den Militärs. Wir haben da draußen unser Blut gegeben fürs Scheißvaterland, während unsere Familien zu Hause Hunger litten. Und der Kaiser sitzt in seinem Schönbrunn, spachtelt Kapaun mit Kaviar und spült das ganze mit Schampus hinunter. Dieser Krieg ist ein einziger himmelschreiender Skandal. Für euch aber war es ein Skandal, wenn in der Offiziersmesse das Zitronensorbet aus war.“
    „Aber Sorbet gab es doch gar nicht“, empörte sich Spitzer, „auch wir mussten Einschränkungen in Kauf nehmen.“
    Müller starrte den Kommandanten fassungslos an. Dann drehte er sich mit einem

Weitere Kostenlose Bücher