Ciara
bimmeln, die ihn warnend darauf aufmerksam machte, dass sich lediglich eine Liege im Flur befand, jene, unter der er die Kartons versteckt hatte. Er drängte sich an den Menschen vorbei, die zuerst auf ihn zugestürmt kamen, anstatt seiner Bitte zu folgen. Paul erreichte als Erster den Flur, zog das rollende Bett vor, riss es mit Schwung herum, kickte die Kartons mit dem Fuß in den Eingang der Damentoilette und schob die Liege ins Labor.
Eine junge Laborantin, die Paul noch nie gesehen hatte, kniete mittlerweile neben dem Toten und massierte dessen Brust. Sie stoppte, als Lars und Bernhard, ein älterer Laborant, den schweren, stämmigen Kollegen hochhoben und auf die Liege betteten.
»Er ist tot«, sagte jemand.
Paul nickte und spürte die erwartungsvollen Blicke der Laborkollegen auf sich. Mit einem kräftigen Ruck zerriss er dem Mann das Hemd und begann mit der Herzmassage.
»Fahrt uns hoch!« Paul schwang sich auf die Liege, hockte sich über den Toten und massierte aus dieser Position weiter.
Nachdem Paul das Leben seines Kollegen und potenziellen Belastungszeugen gerettet hatte, auch während dessen medizinischer Versorgung vor Ort geblieben war und anschließend noch eine Menge Papierkram erledigt hatte, holte er ohne weitere Zwischenfälle die Kartons aus dem Keller und ging zu seinem Wagen. Schon von Weitem erkannte er das zerbrochene Beifahrerfenster. Jetzt wusste er auch, wie es dem Frettchen gelungen war, aus dem BMW zu fliehen, und woran es sich verletzt hatte. Es musste große Angst gehabt haben. Aber wovor?
Er stellte die Kartons auf der Motorhaube ab. Scherben knirschten unter seinen Sohlen, als er auf die Tür zuging und sie vorsichtig öffnete. Im Rahmen stecken gebliebene Glassplitter fielen heraus, landeten auf dem Boden und teilweise auf Pauls Schuhen. Während er das letzte pyramidenförmige Stück aus dem Rahmen zog, schüttelte Paul die Splitter von seinen Füßen ab. Dabei verlor er das Gleichgewicht, rasch hielt er sich am Autodach fest. Die Scherbe rutschte aus seiner Hand und ritzte ihm die Handfläche auf. Lautstark sog er die Luft zwischen den Zähnen ein. Dann starrte er auf seine blutende Hand. Ein Rinnsal bildete sich und tropfte zwischen seinen Fingern hindurch. Er schloss die Augen. Noch vor einem Tag hatte ihm der Anblick von Blut nichts ausgemacht. Vieles hatte sich in den letzten 24 Stunden verändert.
Blind tastete er nach dem Karton, in dem er die Bandagen verstaut hatte, zog eine heraus, öffnete die sterile Verpackung mit den Zähnen und umwickelte anschließend seine Verletzung. Erst jetzt schaute er auf. Er vermied den Blick auf das langsam trocknende Blut, das an seinen Fingern heruntergelaufen war, packte die Kartons auf den Beifahrersitz und fuhr nach Hause.
Niemand wartete dort auf ihn, außer ein paar Spinnen in schwer einsehbaren Ecken oder Silberfischchen im Bad, die es aber nicht kümmerte, ob Paul anwesend war oder für ewig verschwunden blieb. Außer zu seinen Kollegen pflegte er keine weiteren privaten Kontakte. Auch Post bekam er kaum, bis auf die üblichen Wurfsendungen für Nebenjobs, Pizzataxen und neue Sportcenter. Seine Miete und Nebenkosten bezahlte er direkt an den Hausmeister, pünktlich und in bar. Einen Telefonanschluss besaß er nicht, lediglich ein Handy, aber auch das nur aus dem einen Grund, um in Notfällen erreichbar zu sein. Die Nummer dafür hing in seinem Büro und im Schwesternzimmer. Selbst auf einen Fernseher verzichtete er aus Angst vor schlechten Nachrichten.
Seine Kleidung und die wenigen persönlichen Sachen, die er besaß, packte er in eine einzige Reisetasche. Im Bad entfernte er den Verband von seiner Hand und wusch sich das Blut ab. Der Schnitt hatte sich geschlossen und sah nun eher nach einem kleinen Kratzer aus.
Dann setzte er sich ein letztes Mal an den abgenutzten Tisch, an dem schon viele Junggesellen vor ihm gesessen haben mussten, holte aus der Nachttischschublade einen Bogen Papier und aus seiner Jacke einen Füller.
Als er seine Unterschrift unter die Kündigung für das Appartement setzte und den Text noch einmal durchlas, zitterte die Hand, mit der er das Papier hielt.
Bevor er das möblierte Zimmer verließ, klopfte er zum Abschied auf den Türrahmen der Wohnungstür und sah sich ein letztes Mal um. Es ähnelte den Räumen des Krankenhauses, als sei er hier nur auf Durchreise oder zu Besuch gewesen.
Die Kündigung warf er, zusammen mit der restlichen Miete, in den Briefkasten des Hausmeisters.
3.
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