Ciara
nicht auf seine Worte ein, sondern stieg die Treppen wieder hinunter. Paul folgte ihr. Sie folgten dem Angstgeruch, den das Tier aussandte und der sie in den Keller führte – einen riesigen Gewölberaum tief unter der Erde.
Am Treppenabsatz angelangt, schrie Ciara auf.
»Schließe deine Sinne, schnell.«
»Ich weiß nicht, wie. Oh, Götter. Wie konnten sie nur …« Tränen, die nur einen Bruchteil der Qualen ausdrücken konnten, die andere vor Jahrhunderten ertragen hatten, rannen über ihre Wangen.
»Konzentriere dich auf dein Zentrum und schiebe einen Riegel davor, rasch. Du wirst sonst die Leiden körperlich nachempfinden.«
Schmerzensschreie bohrten sich wie heiße Nadeln in den Gehörgang, durchstießen ihre Trommelfelle. Blut rann aus ihren Ohrmuscheln. Ciara wollte um Gnade winseln, aber ihre Zunge schwoll an, als habe jemand ein heißes Eisen darauf gedrückt. Sie würgte. Und schlug eine Hand vor den Mund. Ihre Augen weiteten sich, als sie die herausgerissenen Nägel an Zeige- und Mittelfinger sah. Unter der Folter, die durch Ciaras Gabe Realität wurde, brach sie zusammen. Ihre Knie gaben nach, doch bevor sie die Stufen hinunterstürzte, spürte sie Paul, der sie in die Arme schloss, dann ihren Kopf zwischen seine Hände nahm und ihren Blick einfing.
Ruhe.
Nichts als Ruhe spürte sie. Und das Verlangen, Paul zu küssen. Dann gab er sie frei, und ihre empathischen Fähigkeiten hatten sich vorerst geschlossen.
Kurz darauf entdeckte Ciara das Frettchen in einer kleinen Vertiefung des festgestampften Lehmbodens, wo es verängstigt kauerte, als ob es ebenfalls die Schreie spürte. Als Ciara mit dem Tier auf dem Arm die steile Kellertreppe emporstieg, zitterten ihre Beine. Bis sie endlich ihr Zimmer erreicht hatte, konnte sie sich kaum mehr auf den Beinen halten. Sie setzte das Frettchen auf das Bett, ging ins Bad, wo sie sich das Blut abwusch und ihre Zunge mit kaltem Wasser kühlte. Dann legte sie sich hin. Paul wartete auf sie. »Möchtest du darüber reden?«
Heiß und geschwollen fühlte sich ihre Zunge an. Ciara wusste, dieses Gefühl würde bald abklingen, aber das Wissen, dass all die Menschen in ihrem Keller tatsächlich solche Qualen durchlitten hatten und daran gestorben waren, würde nie mehr verschwinden. Sie musste alleine damit fertig werden und wollte nicht darüber reden.
»Lass mich bitte deine Verletzungen kontrollieren.«
Sie gab ihm mit einer Hand zu verstehen, sich neben sie zu setzen.
»Darf ich?« Paul zeigte auf ihren Bauch. Ciara zog ihren Pulli ein Stück hoch, sodass sie die Verletzung an der Taille sehen konnten. Die dünne Linie einer bereits verblassenden Narbe schien eher von einem leichten Kratzer herzurühren denn von einem Messerstich.
Vorsichtig tastete Paul nun ihren Hals ab. Sie spürte seine Fingerkuppen auf ihrer Haut und wunderte sich erneut über deren eigenartige Beschaffenheit.
»Die Kruste wird in wenigen Tagen abfallen. Die Fäden hat der Körper bereits abgestoßen.« Anschließend untersuchte er ihre Finger.
»Es tut mir so leid«, hauchte er. »Hätte ich gewusst …«
»Nicht. Es ist gut.«
Er schwieg für einen Moment, dann erklärte Paul: »Du hast dich stark angestrengt. Um deine Sensibilität nicht weiter zu reizen, benötigst du Blut – und Kohlenhydrate. Was hältst du von Pizza?«
Sie nickte und schloss die Augen. Paul klemmte ihr einen neuen Blutbeutel an. »Ich werde etwas länger weg sein, ich muss den Wagen noch reparieren lassen.«
Ciara antwortete nicht, wartete, dass Paul den Raum verließ, und streichelte das Frettchen. Sie lauschte auf das Geräusch der sich schließenden Haustür. Erst als sie allein war, spielte sie mit ihrer Sensibilität Verstecken, konzentrierte sich auf das Plasma, das in ihren Körper strömte, spürte dabei die Energie, die sich wie kleine Perlen in ihrem Inneren verteilte. Anschließend lenkte sie ihre empathische Gabe auf das Frettchen, atmete im gleichen Rhythmus, schnurrte mit ihm zusammen und lächelte über einen skurrilen Traum des Tieres, in dem es sich zuerst über einen Teller Reis hermachte und anschließend mit Eifer ein Loch in einen Karton biss. Schließlich schlief sie mit dem Frettchen zusammen tief und traumlos ein, bis der Duft von Käse, Tomaten und Knoblauch sie aufweckte. Ciara schlug die Augen auf, ihr Blick kreuzte sich mit dem von Paul, der sich daraufhin sofort abwandte.
»Möchtest du hier essen?«
»Nein.« Sie erhob sich. Der Blutbeutel war leer und sie entfernte ihn.
Weitere Kostenlose Bücher