Ciara
Gedanken begann Paul ihr Worte zuzuraunen: ›Verschließe all deine Sinne, deine Augen, deine Nase, deinen Mund, deine Ohren und deine Gefühle. Horche tief in dein Inneres hinein.‹
Seine Stimme versetzte sie in einen hypnoseähnlichen Zustand. Ciara zitterte, Paul drückte ihre Hand fester.
Sie schloss die Augen.
›Nun rieche, höre, spüre, schmecke, fühle, sehe mit deiner Gabe.‹
Ciaras Atmung flachte ab. Ein Teil ihres Bewusstseins entfernte sich aus ihrem Körper, der andere befand sich so tief in ihrem Inneren, dass sie Angst bekam, als sie das Tor dahin öffnete. Nach Halt suchend griff sie um sich, ertastete Pauls rechte Hand; wie von selbst glitten ihre Finger zwischen seine und hielten sich fest.
Seine Haut fühlte sich zart und fest an, warm, aber nicht feucht. Sie bemerkte eine leichte Irritation, hervorgerufen von häufigem Waschen und Scheuern mit einer sterilisierenden Lotion. Die winzige Borste einer Nagelbürste hatte sich unter dem kurzen Fingernagel seines Daumens verklemmt. Als sie die Bisswunde ertastete, die das Frettchen Paul zugefügt hatte, zuckte Ciara zusammen, so als würde sie in diesem Moment selbst gebissen. Eine kleine Narbe, für menschliche Augen kaum sichtbar, für Ciara jedoch deutlich wahrzunehmen, verlief einen Zentimeter an der Innenseite seines Zeigefingers entlang. Verwirrt bemerkte sie die unnatürliche Struktur der Fingerkuppen, die keine Linien aufwiesen, sondern sich wie unzählige verschwindend kleine Saugnäpfe anfühlten. Pauls Lebenslinie legte sich über ihre. Die Handlinien verflochten sich ineinander wie die knorrigen Zweige eines alten Strauches. Für Sekunden glaubte Ciara, nicht nur mit Pauls Hand, sondern mit seinem Körper zu verschmelzen – eins zu sein. Das Gefühl überwältigte sie so stark, dass sie beinahe froh war, als Paul seine Hand aus ihrer Umklammerung riss.
Er keuchte. Ciara blickte ihn an und wusste, dass er das Gleiche empfunden hatte.
Sie schwiegen und starrten einander an. Mit einer fahrigen Handbewegung zerstreute Paul die aufgeladene Luft um sie herum. »Okay, lass es uns ein anderes Mal versuchen.«
Ciara blinzelte mehrmals. Um das eben Erlebte zu begreifen, forderte sie Antworten, doch Paul stoppte sie in Gedanken.
»Spürst du das Frettchen?«
»Nein, nicht in diesem Moment.« Sie konnte den Blick von seiner Iris, deren Farben dem des Tigerauges, eines goldbraun gestreiften Steines, glichen, nicht mehr abwenden.
›Ciara!‹, ermahnte Paul sie in Gedanken.
»Ciara!«, rief er laut aus. »Hör auf, mich anzusehen!« Aber sie hielt sich weit weg auf, irgendwo in einem leeren Raum, und vernahm die Worte wie dumpfe Wellen. Schlief sie? Träumte sie? Oder starb sie nun? Sie sehnte sich danach, ihre Lippen auf seine zu pressen, und näherte sich seinem Gesicht. Jemand hielt sie fern. Nein! Sie musste von seinen Lippen kosten, seinen Atem mit ihrem vermischen. Doch es gelang ihr nicht, sich ihm zu nähern. In ihrer Trance fiel sie in ein unendliches dunkles Nichts. Bevor sie jedoch in der Realität auf dem Boden aufprallte, hielt jemand sie an ihren Armen fest.
»Wach jetzt auf!«
Ciara blinzelte, starrte Paul verstört an und hauchte: »Deine Augen, dieser Strudel …«
»Ich weiß. Du darfst während deiner derzeitigen Schwäche niemals in meine Augen schauen. Nicht, solange du mit deiner Fähigkeit nicht vertraut bist.« Paul wich Ciaras Blick aus und senkte die Arme.
»Aber warum?«
»Lass uns nach dem Frettchen suchen.«
»Verdammt!« Ciara entfernte sich ein paar Schritte von ihm. »Ständig weichst du meinen Fragen aus. Genau wie Mom. Immer dieses Gerede – die Zeit wird kommen. Blablabla.« Sie drehte sich zu ihm, ihr rotes taillenlanges Haar flog dabei von der einen Seite zur anderen und legte sich seitlich über ihre linke Brust. »Die Zeit ist jetzt da! Du weißt es, ich weiß es und Mom wusste es schon lange, aber sie hat trotzdem geschwiegen.«
»Sie hat nie über deine Gabe gesprochen?«, rief Paul, und Ciara spürte, dass seine Bestürzung echt wahr.
»Nur verschleiert in Andeutungen, sie hat mir nie gesagt, warum ich anders bin. Aber woher weißt du, wer ich bin?«
Paul atmete lautstark aus. »Ich wusste nie, ob meine Träume nur Hirngespinste sind oder ob sie eine Bedeutung haben. Bis zu dem Tag, als ich deine Blutwerte las und erkannte, dass meine Träume Realität geworden waren und du mir ähnlich bist. Welche Aufgabe du hast, wer du wirklich bist, das weiß auch ich nicht.«
Ciara ging
Weitere Kostenlose Bücher