Ciara
Dann ging sie an Paul vorbei aus dem Zimmer und zeigte auf die nächste Tür rechts, bevor sie sich in die Küche begab. Das Fenster stand einen Spaltbreit offen. Durch die Ritze pustete der Wind Schneeflocken, die in dem warmen Raum sofort schmolzen. Ciara schloss das Fenster; ihr Blick fiel auf die Pfützen, die sich auf beiden Seiten der Fensterbank gebildet hatten. Einen Zeigefinger tauchte sie in eine der Lachen und malte Kreise auf die Marmorplatte. Das hatte sie als Kind immer gern gemacht, wenn der Regen durch die alten Fenster gedrungen war. Längst waren die morschen Holzrahmen ersetzt. Ein Kind sein, unbeschwert, die Zeit zurückdrehen. Wie schön wäre das. Rasch wischte sie sich den Finger an der Hose ab.
Als sie mit einer Flasche Rotwein, Gläsern und Besteck in die Bibliothek kam, saß Paul auf dem Steinboden vor dem kalten Kamin der Bibliothek und packte das Essen aus. Einen Tisch gab es in dem großen Raum nicht. Die einzigen Sitzmöglichkeiten, zwei Sessel vor dem Kamin, wirkten wie Statisten in einem Raum, dessen Wände mit Regalen tapeziert waren, in denen Tausende von Büchern aus mehreren Jahrhunderten lagerten. Zwischen zwei Regalen befand sich eine zweiflüglige Glastür, die zum Garten hinausführte.
Ciara legte das Besteck auf den Boden, stellte Gläser und die Weinflasche daneben und hockte sich vor den Kamin.
Paul beobachtete sie und rief entsetzt: »Nein. So weit bist du noch nicht.«
Erschrocken drehte sich Ciara um. »Das habe ich schon als Kind gemacht.«
»Schon, aber nicht jetzt, nicht in dieser Situation. Nicht nach dem, was eben im Keller passiert ist.«
Sie zog sich zurück, öffnete die Weinflasche mit einem Korkenzieher, der seinen Stammplatz in einem schmalen Regalfach gefunden hatte. Nur ungern überließ sie es Paul, ein Feuer im Kamin zu entfachen. Mehrere Holzscheite schichtete Paul übereinander und zerknüllte einige Seiten einer Zeitung, die neben dem Kamin lag, stopfte das Papier zwischen die Scheite und entzündete es mit einem Feuerzeug. Ciara hätte lediglich ihre Gedankenkraft verwendet. Gierig leckten die Flammen an dem trockenen Holz.
Sie schwiegen während des Essens. Nur das Feuer erzählte knisternd in einer geheimnisvollen Sprache seine Geschichten und spendete ihnen Wärme, trotz des draußen inzwischen tobenden Schneesturms. Der Winter verschlang die Landschaft mit seinem riesigen vereisten Maul. Pulvriger Schnee begrub die Wiese, bedeckte Sträucher und die Hecke unter sich, sodass sie wie Hügel wirkten. Weiße Adern wuchsen auf den kahlen Ästen der Bäume.
Paul lehnte an der Rückseite eines der braunen Ledersessel. Ciara saß ihm gegenüber und nippte an ihrem Wein.
»Erzähl mir von deinen Träumen«, bat Paul.
Ciara streichelte das Frettchen, das quer über ihren Oberschenkeln lag. »Warum sollte ich dir davon erzählen? Ich warte nach wie vor auf Antworten.« Verärgerung schwang deutlich in ihren Worten mit.
Paul seufzte und fragte nach einer längeren Gedankenpause: »Was soll ich dir sagen, was du nicht selbst schon weißt? Du musst es nur glauben!«
»Ich weiß, dass meine Mutter von einem Lastwagen überrollt wurde und starb, bevor sie mir sagen konnte, wer mein Vater war und warum ich anders und so oft einsam bin.«
Ciara biss sich auf die Unterlippe und starrte den Rotwein in ihrem Glas an, der durch den Feuerschein einen rotgoldenen Schimmer erhielt. Leise sprach sie weiter: »Ich weiß, dass mich jemand mit etwas infiziert hat, an dem ich möglicherweise sterben werde.« Paul sog die Luft lautstark zwischen den Zähnen ein und atmete leise aus. »Er hat dich nicht infiziert, sondern etwas geweckt, was früher oder später sowieso erwacht wäre, nur auf sanftere Art.«
»Die Sensibilität? Meine Mutter hat mir von Menschen erzählt, die fähig sind, Gefühle anderer zu spüren und sich telepathisch zu verständigen, aber dass ich selbst dazu in der Lage bin, hat sie mir verschwiegen.«
Paul nickte und fügte hinzu: »Und noch mehr – deine Fähigkeiten, die sich erst nach und nach entfalten werden. Du bist die Auserwählte, die Erbin der Morgane – hier in dieser Dimension.«
»Morgane? Das ist die keltische Zauberin, eine Märchenfigur aus der Mythologie, die meine Mutter und ich geliebt haben. Aber das sind nichts weiter als Geschichten!« Ciara schüttelte den Kopf, hauchte jedoch nach einer kurzen Pause zu sich selbst: »Meine Mom?!« Allmählich dämmerte es ihr, und einige der Fragen, die sich seit ihrer Kindheit
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