Ciara
zu einer langen Liste aneinandergereiht hatten, schienen mit dieser Offenbarung beantwortet. Doch neue kamen hinzu, und eine davon lautete: »Und wer bist du in diesem Märchen?«
Paul sah ins Feuer. Bevor er antwortete, leerte er in einem Zug sein noch halb volles Glas. Dann wandte er sein Gesicht Ciara zu. »Ich habe keine Ahnung.«
Ihre Blicke trafen sich. Obwohl sie sich der Gefahr des gegenseitigen Hypnotisierens bewusst waren, schaute dieses Mal keiner von beiden weg. Ihre Kräfte befanden sich derzeit auf gleichem Level. Und so verbanden sie ihre Sinne zaghaft miteinander wie mit einem hauchdünnen Seidenband, an dem einmal Paul kräftiger zog, dann Ciara. So schenkten sie dem anderen zögerlich einen stetig wachsenden Einblick in das eigene Innere.
Eine Weile lernten sie sich durch diese seltene Verbundenheit näher kennen, und als sie glaubten, auf mentaler Ebene Vertrauen zueinander gefasst zu haben, reichten sie sich – nur in Gedanken – die Hände, und sie begannen, die Finger des anderen zu streicheln. Trotz der Nervosität und Erregung, die sie spürten, atmeten sie ruhig – bis das metallische Schellen der Türglocke sie aus der einzigartigen Zeremonie riss. Hastig rangen sie nach Luft, widerwillig lösten sie ihre Blicke voneinander und starrten auf die geschlossene Zimmertür.
»Öffne dein Zentrum und schau hinter die Türen. Sag mir, wer dort steht.«
Ciara schloss die Augen und durchleuchtete die Haustür mit einem von Gedanken erzeugten Röntgenstrahl. Sie zitterte vor Anspannung. Langsam begann sie zu berichten: »Ein Mann – groß gewachsen – schlank, aber nicht dünn – muskulöser Oberkörper.« Dann schneller: »Er trägt Motorradstiefel, schwarze Lederhose, mit Lammfell gefütterte Lederjacke, feine Gesichtszüge, gepflegtes Erscheinungsbild, schwarze, glatte, lange Haare, zu einem Zopf zusammengebunden, Koteletten verbinden sich mit einem schmalen Kinnbart. Dunkelbraune Augen, die …« Abrupt stoppte sie, drückte die Hände vor das Gesicht, sie zitterte nun stärker.
»Alles okay?«, flüsterte Paul ihr zu.
Langsam nahm sie die Hände hinunter.
»Es ist schwer, hinter all das zu schauen, aber noch schwerer, es zu verkraften, also warte besser noch, bevor du in das Gehirn eines Menschen eindringst«, warnte Paul.
Ciara nickte und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als habe sie ein Gespenst gesehen.
Paul erhob sich, um den Überraschungsgast ins Haus zu lassen.
Interessiert bestaunte Mike die Holztür, befühlte mit den Fingerkuppen vorsichtig die filigranen Schnitzereien, bis die Tür geöffnet wurde. Erschrocken zuckte er mit seiner Hand zurück, er schnappte nach Luft, als er seinen Kollegen erblickte.
»Du bist mir einige Erklärungen schuldig!« Mike polterte an Paul vorbei ins Foyer.
Dort blieb er stehen, sein Herzschlag beschleunigte sich. Er spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufstellten, wischte mit einer raschen Handbewegung darüber und sah sich um. Die Decke. Die Wände. Die Treppe. Träumte er wieder? Er entdeckte den Spiegel und wartete darauf, dass sich sein Körper um 180 Grad drehen würde, sodass er wieder von der Decke herunterhinge. Doch nichts geschah.
Erst als Paul hinter ihn trat und eine Schulter berührte, war Mike sich sicher, dass er nicht schlief.
»Geht es dir noch nicht besser?«
Mike schüttelte den Kopf, besann sich und antwortete schnell: »Doch. Bestens.« Er drehte sich zu Paul um, vermied – gewarnt durch seinen Traum – den Blick in die Augen und forderte Antworten: »Also, wo ist die Leiche von Frau Duchas? Was geht hier vor? Was machst du überhaupt hier?«
»Komm mit.« Paul schob ihn durch die Halle und in eine Bibliothek hinein.
Als Mike die Besitzerin des Hauses erkannte, blieb ihm für Sekunden die Luft weg.
»Setz dich zu uns«, bat Paul. »Ich werde es dir erklären.«
Mike hockte sich ein Stück von Ciara entfernt auf den Boden. Sein Blick suchte ihren Hals ab, ruhte auf ihrer sich senkenden und hebenden Brust und prüfte dann wieder die Verletzung an der seitlichen Halspartie. »Was macht sie hier? Warum ist sie nicht tot?« Mike schaute Paul fragend an: »Erklär mir das bitte!«
»Ich bin mir nicht sicher, ob du es verstehst.«
»Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dich nicht umgehend anzeigen sollte?!«
»Versprich mir, dass alles, was ich dir jetzt sage, unter uns bleibt.«
Er nickte zunächst zaghaft, dann rief Mike aus: »Was soll das heißen,
unter uns
bleiben? Du hast eine
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