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Ciara

Ciara

Titel: Ciara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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verursachte ihm Übelkeit, darum wählte er einen Tisch abseits der anderen, an dem er allein blieb.
    »Sie können dort«, die junge Frau wies in Richtung einer Theke, »Nahrung aussuchen.« Paul nickte, dankte ihr und folgte dieser Anweisung.
    Als er an den Tisch zurückkehrte, wartete Doktor Smith auf ihn. Paul verdrehte die Augäpfel und bemerkte: »Ist es mir nicht vergönnt, allein essen zu dürfen?«
    »Schon bald, Doktor Philis, schon bald. Doch jetzt möchte ich Sie den anderen vorstellen.«
    Er erhob sich, trat in die Mitte des Raumes, klatschte zweimal in die Hände und richtete so die Aufmerksamkeit auf sich. In sauberem Englisch stellte er Paul den Anwesenden vor und bat um einen stürmischen Applaus.
    Wie Kommilitonen klopften sie auf die Tische und stampften, als seien sie auf einem Kindergeburtstag, mit den Füßen auf dem Boden. Paul vernahm die Geräusche zu intensiv und wünschte sich in sein Zimmer zurück, um dieser Peinlichkeit und der lärmenden Kulisse zu entkommen.
    Als der Begeisterungssturm abebbte, sprach Smith weiter: »Ich wünsche allen noch einen guten Appetit. Wir sehen uns später.«
    Die Mienen der Anwesenden verfinsterten sich, Paul widmete sich seiner kohlenhydratreichen Nahrung, damit sich seine Sinneswahrnehmung normalisierte.
    ›Schau nicht auf, iss weiter. Morgen werde ich nicht mehr da sein, aber diesen letzten Gedanken, den ich dir schicke, gönne ich mir. Verlange mehr von deiner Droge! Was ist es bei dir? Ist es Blut? Wie dem auch sei, verlange, sammle Vorrat, damit die Entzugserscheinungen während der Experimente, denen sie dich aussetzen werden, nicht zu stark werden. Spiel ihnen was vor.‹
    Paul aß so leise und unauffällig wie möglich weiter, indes lauschte er der Stimme in seinem Kopf. ›Ich spüre deine Andersartigkeit, die Begegnung mit einer Besonderen, einer Einzigartigen. Morgen schon wird mein letzter Tag hier sein, nicht weil ich entlassen werde, sondern weil mir mein Ich genommen wird. Niemand verlässt diesen Ort, ohne Smith alles gegeben zu haben, verstehst du? Niemand! Doch du wirst einen Weg finden. In welcher Form auch immer. – Ich muss gehen.‹
    Polternd stürmten zwei uniformierte Männer in den Raum und stürzten sich auf einen der Anwesenden, der mit dem Rücken zu Paul saß und eine rote Baseballmütze trug. Ohne Protest ließ er sich aus dem Raum führen.
    Die nun einsetzende Stille drückte so stark auf Pauls Ohren, dass sie zu schmerzen begannen. Er zwang sich, die Gabel mit Reis zu füllen und in seinen Mund zu schieben. Nach und nach fiel die Starre von den Zurückgebliebenen ab, gedämpfte Gespräche und das Klappern von Metall auf Porzellan drangen an Pauls Ohren, was er – obwohl er es etwas zu laut vernahm – willkommen hieß. Was mochte mit dem Mann geschehen? Seine Gedanken reisten in Ciaras Keller zurück, der heute als Weinkeller diente, in dem vor Jahrhunderten aber vermeintliche Hexen gefoltert worden waren, bis sie gestanden hatten oder starben. Paul schloss die Augen, doch die Bilder von Verstümmelungen, Blut und Leichen blieben, die Schreie der Gepeinigten und das hämische Gelächter der Folterer hallten in seinen Gehirnwindungen wie ein ewiges Echo. Er sah ein blutiges Rinnsal, das aus Ciaras Ohren lief, und das rohe Fleisch ihres Nagelbetts.
    Nichts hatte sich heute verändert. Weiterhin standen Fremdartige und Andersdenkende auf der Liste der Vogelfreien. Nachdem sie gefunden worden waren – manche meldeten sich auch freiwillig, weil sie das Versteckspiel nicht länger ertrugen –, erhielten sie unter Billigung der Gesetzgeber ein nettes Zimmerchen in einem abgeschieden gelegenen Sanatorium. Dort wurde ihnen von Heldentum und Dienst an der Allgemeinheit erzählt, bis einige es zu glauben begannen. Doch die meisten von ihnen begriffen, dass alles nur hohles Gerede war – spätestens, nachdem die Testreihen begannen. Die Qualen und Experimente, natürlich nur um der Menschheit zu dienen und in die Geschichte einzugehen, überlebten die wenigsten. Nach einer gewissen Zeit war selbst der stärkste Körper nicht mehr in der Lage, den Folterungen standzuhalten. Jegliches Gefühl von Heldendasein war längst mit einem scharfen Skalpell herausgeschnitten worden. Ihre Eigenarten, ihr Anderssein wurden untersucht und systematisiert, bis ihre Fähigkeiten implantiert und neu gezüchtet werden konnten. Natürlich nur zum Wohle aller.
    Paul wusste das seit vielen Jahren, aber er hatte stets gehofft, diesen Daumenschrauben zu

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