Ciara
die seichten Wellen stürzten, um kurz darauf mit ihrer Beute in die Lüfte zu steigen. Er wurde eins mit der Natur, tanzte mit dem Wind, trieb auf den Wellen des Meeres, verwandelte sich zu Sand – bis der Wind sich drehte, stärker blies und ihn aus dem einzigartigen Gefühl der Vollkommenheit erweckte. Paul begann einen Schutzwall um seine Gedanken aufzuschichten, der ihn zumindest eine Zeit lang vor fremder Telepathie schützen würde. Er sehnte sich danach, einen letzten Gruß an Ciara zu schicken.
Als er hoffte, sich vor äußeren Einflüssen ausreichend abgeschirmt zu haben, legte er sich in den Sand und konzentrierte sich mit geschlossenen Lidern auf das Bild, das in seinem Gedächtnis haften geblieben war.
Ihr Gesicht kam näher, die blau marmorierten Augen sahen ihn an, ihre Sommersprossen schienen auf der Haut wie Sandkörnchen zu glitzern, der Mund lächelte ihm zu – noch ein Stück, und ihre Nasenspitze berührte seine. Mit beiden Händen liebkoste er ihre Wangen, strich ihr über das rote Haar und fuhr mit einem Zeigefinger über ihre Lippen. ›Vertraue auf deine Fähigkeiten, aber folge mir nicht!‹, lautete seine Warnung, dann küsste Paul sie. Das seltsame Gefühl der Atemnot, das ihn dabei überkam, ängstigte ihn, er riss die Augen auf und sah direkt in den blauen Himmel, an dem Schäfchenwolken entlangzogen.
»Doktor Philis – hier sind Sie also.«
Stolpernd kam Paul auf die Beine. Zwei Schritte entfernt stand Smith und lächelte ihn an.
»Eine schöne Aussicht, nicht wahr? Ich stehe hier oft und betrachte das Meer.«
»Mit einer anderen Erwartung, vermute ich, Doktor Smith.«
»Das glaube ich nicht. Wir sind doch alle Gefangene unseres Schicksals. Ihres ist es, hier zu sein und uns etwas zu geben, das wir benötigen.« Er schaute Paul an und trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich verstehe durchaus, dass Sie lieber bei ihr wären, doch leider kann ich das nicht mehr zulassen.«
»Von wem reden Sie?«, fragte Paul, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Ein hohles Lachen schallte ihm entgegen, bevor Smith erklärte: »Sie wissen sehr wohl, wen ich meine. Denken Sie immer daran, wo Sie sich befinden. Verzeihen Sie, aber an diesem Ort sind die Gedanken nicht frei!«
Paul schwieg, was sollte er darauf auch antworten? »Wir werden Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten und Ihre Wünsche befolgen, dafür geben Sie uns Ihre DNS. Ich finde, das ist ein fairer Deal.« Er schaute in Richtung Meer.
Paul wandte sich ab. Er stapfte durch den Sand auf den Asphalt und von dort aus, schwerfällig und nachdenklich, zum Haus zurück.
Seitdem er Ciara kennengelernt hatte, war er sicher gewesen, sie sei sein Schicksal – oder er ihres –, aber jetzt zweifelte er an der Glaubhaftigkeit seiner Gedanken und Träume. Niemals durfte Ciara hierher gelangen. Sobald sie die Insel erreichte, würde sie nie mehr das Festland zu sehen bekommen. Smith plante, sie in Ketten zu legen und ihre Fähigkeiten zu missbrauchen, daran zweifelte Paul keinen Augenblick. Also oblag es ihm, dem Schicksal Steine – oder Wellen – in den Weg zu legen. Er spürte leichten Schwindel, Hunger begann ihn zu quälen. Als er das Sanatorium erreichte, begegnete er zum ersten Mal seit seiner Ankunft einem anderen Menschen als Smith.
Sein Magen knurrte lautstark und er bekam Kopfschmerzen, sodass Paul nicht die Gelegenheit ergriff, die Gedanken der Frau anzuzapfen, sondern sich erkundigte, wo er etwas zu essen erhielte.
»Folgen Sie bitte mir, Doktor Philis«, antwortete die junge Frau in gebrochenem Deutsch und ging voran. Das schwarze glatte Haar trug sie zu einem Zopf zusammengebunden, was Paul kurz an Mike erinnerte. Durch die weiße Bluse schimmerte ihr BH, und der knielange Jeansrock schmiegte sich eng um ihre Hüften. An der rechten Ferse lugte ein Pflaster aus dem Turnschuh. Ein circa drei Zentimeter im Durchmesser großes und unebenes Muttermal verunzierte ihre linke Wade. Unwillkürlich diagnostizierte Paul: Basis für Hautkrebs.
Zu seiner Überraschung hatten sich zwölf Personen, die in Gruppen an mehreren Tischen aßen, tranken oder nur miteinander redeten, in dem Speisesaal zusammengefunden, der ihn an die Krankenhauskantine erinnerte. Als Paul den Raum betrat, verstummten sie und beäugten den Neuankömmling.
»Please!«, wies ihn die junge Frau lächelnd an, Platz zu nehmen. Er spürte die Präsenz von Leben, aber auch die des Todes in diesem Raum. Der Geruch, der von den Menschen ausging,
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