Cinderella auf Sylt - Bieling, E: Cinderella auf Sylt
Beton.«
»Nee, ist es nicht!«
»Ich dachte, dir gefällt die Sandburg, in der wir jetzt wohnen.«
»Die ist doof, genau wie das Meer.«
Die Sandburg ist doof?
Cinderellas Angst wurde größer. Was, wenn er sich wirklich nicht einleben würde? Was, wenn sie doch irgendwann zurück müsste? Der Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Sie konnte sie schon hören, die vorwurfsvollen Worte ihrer Stiefmutter. Wie konntest du nur einfach so weglaufen – mit Kind und ohne mir Bescheid zu sagen?
Alles, nur nicht zurück!
Cinderella stand auf und ging hinunter ans Wasser. Die Wellen schwappten über ihre Sandalen. Aber das war ihr völlig egal. Zu lange hatte sie von diesem Augenblick geträumt – von der Insel, dem Meer und der unendlichen Freiheit, ihrer Freiheit. Sie lächelte. Alles würde gut werden, ganz sicher. Das musste es einfach! Schließlich hatte sie jetzteinen Job. Und Tommy würde sich an all das hier gewöhnen, es vielleicht sogar lieben lernen. Er brauchte eben nur Zeit.
Zurück im Zimmer, warf sich Tommy auf das fachmännisch hergerichtete Bett und schlief sofort ein. Cinderella überlegte ihn wachzurütteln, zog dann aber nur seine Schuhe aus. Sie packte noch rasch die wichtigsten Utensilien aus, bevor sie sich ebenfalls zum Schlafen auf das Sofa legte. Der Wecker, den Mike immer so sehr gehasst hatte, stand gut platziert auf einer Kommode an der gegenüberliegenden Wand. Cinderella mochte dieses monströse Uhrending im Retro-Look. Er war ein Geschenk ihrer Großmutter. Das Ziffernblatt leuchtete zart grünlich im Dunkeln, und zwei silberne Glocken, die fast wie Ohren aussahen, verliehen dem Wecker eine außergewöhnliche Optik, ja fast ein Gesicht.
Leise klackte der Sekundenzeiger vor sich hin und brachte den Klang von Vertrautheit in die einbrechende Nacht. Dennoch bekam Cinderella kein Auge zu. Die Furcht, gleich am ersten Arbeitstag zu verschlafen, war einfach zu groß. Sie stand auf, knipste die kleine goldummantelte Wandlampe über der Sitzecke an und machte sich daran, die übrigen Sachen auszupacken.
Das lautstarke Geläut des Weckers drang in Cinderellas Traum ein und riss sie in die Realität zurück. Erschrocken fuhr sie auf. Ihr Genick schmerzte, und das Fotoalbum, das sie in den Händen gehalten hatte, fiel zu Boden. Noch etwas benommen, blickte sie sich um.
Wo war Tommy?
Er schlief seelenruhig und fest. Seine Hände umklammerten ein Zipfelstück der Decke. Cinderella atmete auf. Ein friedliches Bild, wie er dort so lag und im Schlaf lächelte.Mike hatte es nie zu schätzen gewusst, solch einen wundervollen Sohn zu haben. Nicht einmal an Tommys Geburtstagen hielt er es für nötig, anwesend zu sein. Immer waren seine erfolglosen Gesangsauftritte wichtiger, nach denen er jedes Mal eine neue Affäre hatte. Cinderella seufzte. Irgendwann würde es Mike bereuen. Das wusste sie. Tommy lächelte immer noch vor sich hin, während Cinderella ihn betrachtete. Am liebsten hätte sie ihm noch eine Weile zugesehen, doch sie musste sich beeilen. Der Job! Ihr blieben ganze fünfzig Minuten. Viel zu wenig für eine unausgeschlafene Neu-Sylterin, die sich an ein Leben ohne Küche erst einmal gewöhnen musste. Wo zum Teufel sollte sie Tommys Frühstücksbrote schmieren? Und wo zukünftig ihre Einkäufe lagern?
»Aufstehen, kleine Schlafmütze.« Sie rüttelte sanft ihren Sohn wach. »Wir müssen irgendwo frühstücken gehen.«
Tommy räkelte sich. »Frühstücken gehen?«
»Ja! Mach schon, steh auf.«
Cinderella lief zum Schrank, wühlte darin herum und verschwand im Bad.
Das Restaurant war noch leer. Gerade mal zwei jüngere, leicht angeheiterte Männer standen am Frühstücksbuffet und suchten nach Zutaten für einen Anti-Kater-Drink. Lautstark diskutierten sie über die Wirkung eines in Sole getauchten Eies.
Cinderella griff sich ein Tablett und huschte an der reichlich gedeckten Theke entlang. Ein Roggenbrötchen, ein Weizenbrötchen, zwei Würfel Butter, etwas Marmelade und Orangensaft.
»Ich will ein Ei«, rief Tommy, der ihr kaum folgen konnte.
»Dafür ist jetzt keine Zeit.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich zur Arbeit muss.«
»Aber du bist doch schon da.«
Cinderella verdrehte die Augen. »Von mir aus.«
Tommy drängelte sich durch die immer noch streitlustigen Herren und griff sich ein Ei aus dem Glas.
»He, Junge, dafür benutzt man aber diese Zange hier«, beschwerte sich der dickere von beiden.
»Nö, ich esse das immer mit der Hand«, erwiderte Tommy, stopfte sich das Ei in
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