Cinderella undercover
ehrlich bin, interessiert mich das nicht. Schließlich hat er noch nichts angestellt, weshalb sie ihm wirklich böse sein könnte…«
Nachdem ich das Bäumchen gegossen hatte, fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne darauf. Ich stand eine Weile nachdenklich vor dem Grab. In den letzten Tagen war es deutlich kühler geworden und wir steuerten eindeutig auf den Herbst zu.
Bald würde es Winter werden, bald Weihnachten.
Kommenden Februar jährte sich der Todestag meiner Mutter.
Wie es sich wohl anfühlte, all diese Feiertage, die Mama so geliebt hatte, zusammen mit den Grazien in der neuen Wohnung zu feiern?
Würden wir einen Baum haben und an Silvester Raclette essen? Oder hatten die Wolters ihre eigenen Rituale, denen wir uns anpassen mussten, ob wir wollten oder nicht?
Bei diesem Gedanken holte die Realität mich schlagartig wieder ein und ich sah auf die Uhr. »Tschüss, Mama, ich muss jetzt los. Paule hat heute Abend eine Ballettaufführung. Mach’s gut, pass auf dich auf, bis bald.«
Melancholisch und ein bisschen müde setzte ich mich in die U-Bahn, um zur Laeiszhalle zu fahren, in der Paules Balletttruppe ihren großen Auftritt hatte.
Bevor es losging, spuckte ich ihr in der Garderobe über die Schulter und wünschte toi, toi, toi für den Abend.
»Du siehst super aus und wirst das ganz toll machen!«, feuerte ich sie an und platzte gleichzeitig vor Stolz.
Meine liebste, beste Freundin.
So schön und so begabt.
Ein paar Minuten später nahm ich in der dritten Reihe neben Paules Familie Platz und wartete darauf, dass der Vorhang sich öffnete.
Bis dahin ließ ich mich dankbar von der Atmosphäre des Konzertsaals gefangen nehmen und bestaunte die riesige Orgel, die barocken Deckenverzierungen und dachte an all die berühmten Künstler, die seit 1908 hier schon große Auftritte gehabt hatten. Sogar Maria Callas hatte an diesem Ort eines ihrer legendären Konzerte gegeben. Während die Musiker des NDR-Sinfonieorchesters im Orchestergraben die Instrumente stimmten, ließ ich meinen Blick über die Reihen vor uns schweifen. Auch wenn man sich heutzutage fürs Theater oder die Oper kaum noch schick machte, war das Publikum an diesem Abend vergleichsweise edel gekleidet. Schräg vor mir saßen zum Beispiel Vater und Sohn, beide in dunklem Anzug und gestärktem weißem Hemd. Der Sohn hatte kurze schwarze Haare und trug einen Fransenpony, was ich erkennen konnte, als er für einen kurzen Moment aufstand, um einige Nachzügler an sich vorbeizulassen. War das… war das etwa… Daniel Petersen?
Diese Entdeckung brachte mich so durcheinander, dass ich beinahe den Anfang der Aufführung verpasst hätte.
Dann wurde es allmählich dunkel im Raum, nur die Bühne war in sanftes Licht getaucht. Nach und nach tippelten die Ballett-Elevinnen herein, Paule kam als dritte. Begrüßungsapplaus brach los und auch ich klatschte wie wild. Schon nach kurzer Zeit war ich komplett gefangen in der Inszenierung.
In der Pause konnte ich es allerdings kaum erwarten herauszufinden, ob der Typ schräg vor mir wirklich Daniel war. Möglichst unauffällig pirschte ich mich an die Warteschlange am Sektstand heran, flankiert von Paule, die kurz herausgekommen war, um mich zu fragen, wie es mir gefiel. »Es war ein Traum… g enau wie Daniel…« , hauchte ich, weil ich gerade entdeckt hatte, dass er es wirklich war. Ein paar Meter entfernt stand er zusammen mit seinen Eltern.
Ich stieß Pauline sanft in die Rippen und deutete mit dem Ellenbogen in die Richtung des Trios.
»Das ist doch dieser Daniel Petersen…«, kreischte Paule daraufhin los, was zur Folge hatte, dass sich alle drei zu uns umdrehten. Oh Erde, tu dich auf und verschling mich.
Und zwar SOFORT!
Daniel grinste, seine Eltern lächelten ebenfalls. »Sag mal, kennen wir uns?«, fragte er in Richtung Paule und schaute ganz fasziniert. Na bitte, schon ging’s wieder los. Neben Paule wurde ich einfach immer unsichtbar. »Ich kenne dich aus dem… aus dem… Internet«, stammelte Paule, die sich seit Neustem zunehmend unsensibler benahm, und nestelte an ihrem Ballerinaknoten. »Die Seite der Kunstbuchhandlung…«, erklärte sie unbeholfen, während ich danebenstand und Löcher in die Luft starrte.
Vielleicht sollte ich einfach behaupten, dass ich dringend mal auf die Toilette musste, und mich einfach davonmachen?
»Meine Liebe, Sie haben wirklich wunderschön getanzt«, mischte sich nun Daniels Mutter ins Gespräch. »So ausdrucksvoll, so graziös,
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