Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Musikbibliothek.
Bei dieser handelte es sich um keinen eigenen Raum, und sie lag au ch nicht weit entfernt vom Eingang, war aber etwas tiefer angesiedelt als der Rest des Erdgeschosses, und dadurch weniger gut einzusehen. Es drängte mich hinaus, aber der Weg war versperrt. Trotz des großen, offenen Raumes verspürte ich eine klaustrophobische Enge und musste den Drang unterdrücken, einfach loszugehen, nur hinaus. Dann kam mir der Gedanke: Wenn ich im Raum nicht frei war, würde ich mir einfach Zeit nehmen. Obwohl diese kostbar war.
In der Musikbibliothek tat hinter einem hö lzernen Tresen die Bibliothekarin Dienst, bei der ich üblicherweise nach Terminreservierung den Schlüssel für den Flügel abholte, die Frau mit den großen, dunklen Augen und den verkürzten Armen. Sie sah mich mit einem Lächeln an. „Sie habe ich heute aber nicht erwartet.“
Ic h nickte mit dem Kopf und schüttelte ihn dann, hielt kurz inne.
„ Ist denn ein Flügel frei?“
Sie verneinte bedauernd. Ich sah sie an.
„Ich bräuchte aber dringend einen. Nur für eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, vielleicht.“
Sie sah mich verwundert an. „ Es kommt aber gleich jemand.“ Wir sahen beide auf die Uhr; es war kurz vor eins. Ich atmete durch.
„ Es ist so eine Art Notfall.“
Ich wartete ab, wie die Worte auf sie wirken wü rden. Sie zog die Stirn kraus und dachte nach. Sie nahm es mit weniger Verwunderung auf als befürchtet, dass es Situationen geben könnte, in denen es von größter Wichtigkeit wäre, jetzt und sofort Klavier zu spielen.
Sie gab mir den Schlü ssel, der einen gelben Plastikanhänger trug. „Raum drei. Ich sage, eine Saite sei gerissen und es könne etwas dauern. Aber in zwanzig Minuten sind sie wieder da, okay?“
Mir war danach, ihr einen Handkuss zu geben, aber das wä re schwierig gewesen. Ich sah sie an und bedankte mich. Sie errötete leicht, als habe sie meine Gedanken gelesen. Im Hintergrund ahnte ich eine orange Jacke, und eilig nahm ich den Schlüssel, ging zur großen weißen Tür des Musikzimmers drei, und schloss von innen ab.
35
Es war merkwürdig, in dieser Mittagsstunde am Rosenmontag, auf der Suche, auf der Flucht, sich versteckend vor dem schwarz glänzenden Flügel zu sitzen, als gäbe es nichts Wichtigeres. Auch wusste ich nicht, was ich spielen sollte. Mehr aus Einfallslosigkeit denn zur Tarnung schlug ich einzelne Töne an, wie ich es von Klavierstimmern kannte, mehrmals hintereinander die gleiche Taste, mit einer gewissen Strenge. Etwas Metallisches, das ich noch nie zuvor so deutlich wahrgenommen hatte, versetzte das Instrument in eine feine Vibration. Dann ein paar Akkorde, auf den Klang der Saiten lauschend, die Schwingungen spürend, so wie man den Geruch eines unbekannten Gewürzes in sich aufnimmt oder den Duft eines kräftigen Weines. Erst gegen Ende der kurzen Zeitspanne, die mir gewährt worden war, fanden die Akkorde zusammen und verdichteten sich zu einer gemessenen, dunklen Folge.
Pü nktlich öffnete ich die Tür, sah mich kurz vorsichtig um. Das Orange war verschwunden aus der Bibliothek, und auch der Kopfschmerz hatte nachgelassen. Ich ging zu der Bibliothekarin, neben der schon ein Herr in offenem Hemd und grauem Anzug wartete, und reichte ihr vorsichtig den Schlüssel über die Theke.
Ein kaum merkliches Zittern durchlief mich plö tzlich, verbunden mit der Ahnung, dass ich nie wieder hier spielen würde.
„ Soweit in Ordnung, lassen sie ihn bald mal wieder gründlich stimmen.“
Sie nahm den Schlü ssel entgegen, indem sie sich vorbeugte, und lächelte ihr warmes Lächeln. „Vielen Dank, dass sie so schnell kommen konnten!“
Während ich am Ausgang darauf wartete, das Drehkreuz mit der elektronischen Sicherung zu passieren, fiel mein Blick auf einen Tisch, auf dem Bücher mit kleinen Beschädigungen zur Reparatur bereitlagen. Zuoberst ein abgegriffener Band, Die Architektur der Klöster Mitteldeutschlands , der Aufmachung nach sicher ein halbes Jahrhundert alt. Das Buch trug ein Etikett mit der Aufschrift Präsenzbestand – nicht ausleihbar . Ich nahm es in die Hand. Ein brünettes Mädchen mit Kopfhörern vor mir in der Schlange sah mich ausdruckslos an. Ich erwiderte ihren Blick, und sie sah wieder weg. Hinter mir stand niemand. Der Tisch war zurzeit nicht besetzt. Ich steckte das Buch unter die Jacke und in den Hosenbund.
Beim Passieren der elektronischen Abtastung hinter dem Drehkreuz ertö nte das gefürchtete Signal. Eine Bibliothekarin hob
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