Circulus Finalis - Der letzte Kreis
an dem ich einst mit Marie entlang spazierte, und wo uns ein alter Mann anstrahlte, weil, wie er sagte, er sich immer freute, wenn es Menschen gut miteinander hätten. Dem Fluss zu, so als halte der die Lösung oder einen Fluchtweg bereit, dabei stellt er sich mir eigentlich einfach nur in den Weg. Schon stehe ich an der Promenade und blicke hinunter auf das trübe Wasser, auf dem behäbige Binnenschiffe sich langsam voran schieben, und weiß mit einem Mal nicht mehr, was ich mir hier erwartet habe. Ich drehe mich um in der vagen Hoffnung, Borsberger abgeschüttelt zu haben, aber da tritt er schon hervor aus der Menge, kaum mehr als zwanzig Meter noch entfernt, wirres Haar und verlaufene Schminke, und kommt auf mich zu, mit langsamer Siegesgewissheit.
Ich wende mich der langen Treppe zu, die zum Uferweg hinunterfü hrt, zwei Stufen auf einmal nehmend, über den letzten Absatz hinweg, und da passiert es, ganz unspektakulär: Der linke Knöchel knickt mir weg, ein Stich; ich stolpere und stürze, zum Glück ist es nicht mehr weit, und komme auf den Pflastersteinen zu liegen, wo sich das Geräusch des Blutes in meinen Ohren mit dem Strömen des Flusses vermengt.
Borsberger folgt mit einer gewissen Lä ssigkeit die Treppe hinab, ich zittere und vermag mich nicht vollständig aufzurichten. Im Knöchel pocht es, dort wohnt der Schmerz. Die Perücke ist mir vom Kopf gerutscht, die zerknickten Zettel halte ich in der einen Hand, das Buch aus der Bibliothek vor der Brust. Noch einmal versuche ich, auf die Beine zu kommen, und sinke zurück.
Zum Wasser sind es nur etwa fü nf oder sechs Meter. Wenn ich nicht laufen kann, wenn es kein Versteck für mich gibt, dann muss ich etwas tun, um ihn von mir fernzuhalten. Obwohl ich am unteren Ende der steinernen Treppe liege, über die er gerade hinuntereilt. Ich muss seine Entschlossenheit gegen ihn verwenden.
Noch einmal richte ich mich ein we nig auf. Den Blick stumm und ausdruckslos auf ihn gerichtet, presse ich das Buch über die Klöster eine Sekunde lang an die Brust, nehme es dann in die Rechte. Dann verziehe ich den Mund zu einem Lächeln, das herausfordernd und höhnisch zugleich sein soll, und werfe das Buch in Richtung Fluss.
Der Wurf ist das Schwierigste: Im Sitzen, aus der Drehung, und ohne das Wasser unmittelbar zu sehen. Auf keinen Fall darf das Buch am Ufer landen, es soll aber auch nicht so weit ins Wasser getragen werden, dass eine W iederbeschaffung aussichtslos ist.
Der Wurf gelingt: Ein Stü ck weit flussaufwärts, das gibt ihm Zeit, das ist perfekt. Ich lasse mich wieder zurückfallen, ohne meinen Verfolger aus den Augen zu lassen, und forciere ein Lachen, was erstaunlicherweise nicht schwerfällt. Schon hat er mich erreicht, keuchend und nass vor Schweiß, und ich sehe seinen Blick hin und her zucken zwischen dem Buch, das langsam und mit einer Drehbewegung stromabwärts Fahrt aufnimmt, und mir, dem lachenden, unbeweglichen Widersacher. Ich sehe seine Füße und Hände auf eigene Rechnung halbherzige Ausfälle machen, aber an und für sich ist Borsberger kein gewalttätiger Mensch, und so steht er nur einen Moment da und droht mir ohnmächtig und lächerlich mit dem Finger. Sein Gesicht ist ein Alptraum, die fadblonden Haare strähnig und mit Schminke verschmiert, die Bemalung sich auflösend, von Schweiß- und Wischspuren durchzogen, der Mund verzerrt, kaum wiederzuerkennen. Ein Gesicht, das für das steht, was ich angerichtet habe.
„ Lauf nur, es wird dir nichts nutzen. Lauf nur!“
Er brü llt die letzten beiden Worte, und ich muss an seine Frau denken, die Dressurreiterin. Passanten sehen kurz auf; keine Szene, die im Karnevalstreiben besondere Aufmerksamkeit erregt. Dann eilt Borsberger in Richtung Ufer, bemüht, ein dort vertäut liegendes, hölzernes Rettungsboot loszumachen, alle paar Sekunden mit den Augen das Buch suchend, das in träger Drehung langsam an ihm vorbei stromabwärts treibt.
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Fünf bis maximal zehn Minuten, so schätzte ich, mehr Vorsprung würde mir das Buch nicht bringen. Mühsam stand ich auf, belastete vorsichtig den schmerzenden Knöchel, und machte mich dann langsam und humpelnd, die Perücke in der Hand, wieder auf den Weg die Treppe hinauf. Von oben verfolgte ich, wie Borsberger auf das Buch zusteuerte und danach griff; dann drehte ich mich um und humpelte vorsichtig über Kopfsteinpflaster auf die nächste Straßenbahnhaltestelle zu.
Die Stadt wimmelte nach wie vor von Sanitätern. Auch von Polizei. Plötzlich
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