Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Meter dorthin, um hinter der Umfassung Schutz zu suchen und vorsichtig zwischen Mauer und Tafel in Richtung Rolltreppe zu spähen.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Borsbergers fahlblonder Haarschopf sichtbar wurde. Ich hatte ihn offensichtlich unterschätzt, sowohl seiner Geschwindigkeit als auch seiner Entschlossenheit nach. Suchend sah er sich um, aber sein Hauptaugenmerk galt der Menschenmenge und verräterischer Bewegung oder Unruhe darin. Aber da war nichts, außer dem üblichen Geschrei, dem Singen, den ausgestreckten Händen.
Er ging ein paar Schritte auf die Reihen der Zuschauer zu, wä hrend ein neuer Wagen mit einem in die Höhe ragenden Titanic-Heck vorbeirollte, und ich hoffte schon, er werde mich dort zwischen den Menschen suchen und mir Gelegenheit geben, wieder nach unten oder in eine andere Richtung zu verschwinden. Dann aber trat er einen Schritt zurück, und noch einen, und ohne den U-Bahn-Ausgang oder die Menschenmenge aus den Augen zu lassen, ging er die wenigen Meter zu einer der Rolltreppe gegenüberliegenden Telefonzelle. Für den Augenblick saß ich fest.
Durch den schmalen Spalt zwischen Werbetafel und Mauer hindurch sah ich ihn wä hlen und kurz sprechen; es hätte auch ein Routineanruf sein können. Dann, als er offensichtlich schon im Begriff war, aufzulegen, erstarrte er plötzlich. Seine Augen waren auf einen Punkt schräg hinter mir gerichtet. Vorsichtig blickte ich über die Schulter zurück.
Dort in meinem Rü cken hing an einem lackierten Metallrohr ein konvexer Spiegel, der angebracht worden war, um den aus einem Parkhaus ausfahrenden Autos die Übersicht über Gehsteig und Straße zu ermöglichen. Sein runder Teller zeigte mir eine Hundertachtziggradansicht von Straße, Fassaden, Parkhausausfahrt, Menschenmenge, und Telefonzelle mit dem Clown darin. Der sagte noch etwas, dann legte er auf. Obwohl ich seine Augen nicht erkennen konnte, gab es kaum einen Zweifel, dass sie auf mich gerichtet waren.
Drei Mö glichkeiten, die zu bedenken mir nur einige Sekunden blieben: Ich konnte versuchen, mit ihm zu reden, ich konnte ihn angreifen, oder ich konnte laufen. Der Ausgang von eins oder zwei war Ungewiss, und in jedem Fall musste ich davon ausgehen, dass er meinen Standort weitergegeben hatte und ich wertvolle Zeit verlor. Möglicherweise würde es nur Minuten dauern, bis die Nachhut eintraf.
Also lief ich.
In der Erinnerung sehe ich ein Durcheinander verschiedener Bilder: Borsbergers verzerrtes Clownsgesicht durch das von Lac kstiften verunstaltete Glas der Telefonzelle; Wind, der Bonbonpapiere, Papierfetzen und Luftschlangen durch die Luft wirbelt wie Herbstlaub, und an Perücken und zu kleinen Hüten zerrt. Rote Ampeln, manche aufgrund des Karnevalszuges ohne Bedeutung, andere durchaus beachtenswert. Ein schwarzer Porsche, der im letzten Augenblick so scharf bremsen muss, dass der erstaunte Fahrer nicht einmal auf die Idee kommt, die Hupe zu betätigen, und zwischen ihm und den anderen Fahrzeugen ich, für den es selbstverständlich ist, dass das Auto gerade noch rechtzeitig zum Stehen kommt, weil die Alternative im Grunde unvorstellbar ist: Rettungsdienst hin oder her.
Nein, mir wird nichts passieren: und je größ er das Risiko, desto schwieriger die Verfolgung. Ich klettere über die Kupplung zwischen zwei stillstehenden, blassgelben Straßenbahnwaggons hindurch, wo eine Kette den Weg versperrt, Lebensgefahr, und der Fahrer klingelt wie verrückt, keiner anderen Äußerung mächtig. Dann ist es geschafft, die Bahn fährt an, und Borsberger muss warten, ein paar Sekunden nur, aber mein Vorsprung wächst. Ich schlage einen Haken, habe die Skizzen längst aus meiner Jackentasche gezerrt und werfe jetzt meine Jacke und Baseballkappe ab wie eine Eidechse ihren Schwanz, in der Hoffnung, zumindest ein paar weitere Sekunden zu gewinnen. Zwischen den Häuserzeilen der Altstadt herrscht Gedränge, das mich verlangsamt, aber meinem Verfolger ergeht es nicht besser. Jeder hier ist verkleidet. Jetzt packt mich der Übermut: Ich ziehe einen Geldschein aus der Hosentasche, verlangsame meinen Lauf und halte auf einen bebrillten Mann mit roter Lockenperücke zu. Mit dem Geldschein wedelnd deute ich auf seine Perücke, ganz außer Atem, und verdutzt gibt er sie mir. Gescheitelte graue Haare kommen darunter zum Vorschein. Er lächelt ein breites Lächeln, so als seien wir alte Bekannte; die oberen Schneidezähne trennt ein deutlicher Spalt.
Weiter also, mit der Perü cke, dem Fluss zu,
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