Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Eifersucht. Strafverfolgung in der Heimat. Und so weiter. All die Auswüchse, all die Grausamkeiten der Kreuzzüge sind nur dann schwer zu verstehen, wenn man das übersieht. Es war eine Auswanderungswelle, ein Eroberungsfeldzug mit religiösem Aufsatz. Und in dieser Gemengelage bedeutete die Religion nicht etwa eine moralische Einschränkung, nein, sie lieferte den moralischen Freibrief.“
„ Und was heißt das in diesem Fall?“
Er wies wieder auf die Blä tter. „Sehen Sie sich den Grundriss an. Der ist offen. Schwer zu verteidigen. Auch im günstigsten Fall musste ein Kreuzfahrer damit rechnen, dass er über lange Zeit immer wieder Widerstand ausgesetzt sein würde. Das entsprach seiner Lebenserfahrung.“
Ich nickte.
Dann zeigte er wieder auf den Plan. „Schauen Sie genauer hin. Auf die Raumgrößen und die angedeutete Wanddicke, die Breite der Gänge. Das Gebäude, das hier dargestellt ist, ist nicht homogen. Es wurde in mindestens drei, vielleicht vier unterschiedlichen Bauphasen verändert und vermutlich erweitert.“
„ Und was heißt das?“
„ Das müssen Sie mir schon sagen. Das war doch wohl genug an Hilfe.“ Er war jetzt wieder ganz Professor und blickte mich beinahe streng an.
„ Na ja… Anscheinend - wurde langfristig gebaut. Verteidigung spielte keine Rolle. Man fühlte sich sicher.“
Er nickte, war aber offensichtlich noch nicht zufrieden.
„ Etwas, das über die Zeit gewachsen ist, aber keine Angreifer abwehren musste. Vielleicht ein Kloster?“
Er sah wieder auf das Blatt. „ Nicht schlecht. Aber – sehen Sie diesen Anbau hier? Der sieht seiner Anlage nach fast modern aus. Welches Kloster hätte heute noch den Bedarf und das Bedürfnis, einen großen, verhältnismäßig modernen Anbau zu schaffen?“
Ich verspü rte wieder Kopfschmerzen. Mir kam das alles sehr vage vor, und dennoch blieb der Eindruck, Suntingers Beobachtungen müssten mir die Lösung präsentieren. „Vielleicht – ein Kloster, das zu etwas anderem umfunktioniert worden ist? Sagen wir zu einer Tagungsstätte oder zu einem Museum?“
Er nahm einen letzten Schluck von seinem Kaffee. „ Vielleicht. Schreiben Sie mir mal, wenn Sie’s wissen. Oder schauen Sie vorbei.“ Er schüttelte mir die Hand. Ohne nachzudenken, fragte ich ihn, ob er nicht enttäuscht sei, dass ich mein Studium abgebrochen hätte.
„ Ach… Wissen Sie… Sie sind ja nicht untätig, oder?“
Er deutete auf die Blätter Papier. „Irgendwie ist halt doch etwas von einem Suchenden in ihnen, und dafür muss man nicht studieren. Das kann man gar nicht studieren.“
Er grinste auf ü beraus unpassende Weise schelmisch.
Mit meinem Rest erkaltenden Kaffees blieb ich noch eine Weile sitzen. Hunger verspürte ich noch immer nicht. Wieder der Blick zum Handgelenk: sechzehn Uhr zwanzig. Seit fünf Stunden war ich auf der Flucht. Vor zwölf Stunden hatte mein Magen begonnen, zu revoltieren, da war ich noch im Dienst gewesen; unendlich viel länger schien mir das her zu sein.
Ich ging zur Toilette, versorgte erneut meinen Knö chel und wusch mich am Waschbecken, so gut es ging. Seit dem Gespräch fühlte ich mich ruhiger. Die Suche in der Bibliothek konnte ich mir vermutlich sparen, denn wenn es ein Kloster war, dessen Grundriss die Bilder zeigten, dann war es keines von den traditionellen, kunstvoll angelegten mit Innenhof und Kreuzgang und Klostergarten. Es sah viel mehr aus wie ein nach praktischen Erwägungen gestaltetes, mehrfach und bis in die Gegenwart erweitertes Bauwerk, das als Beispiel für die mittelalterliche Architektur wenig attraktiv war.
Aber Suntingers Ü berlegungen hatten mir einen neuen Zugang eröffnet, den der Empathie: Versuchen Sie, sich in ihre Weltsicht und ihre Bedürfnisse hineinzuversetzen. Die Blätter hatte Siad versteckt, und sein Denken war es, das ich verstehen musste. Ich setzte mich wieder in die menschenleere Cafeteria und schrieb Eigenschaften auf die Rückseite eines der Blätter, die ich mit Siad verband.
Humor
Integritä t
Erfindungsgabe
Bescheidenheit
Vielseitigkeit
Bodenständigkeit
Trä umerei
Fleiß
Das half mir nicht weiter, zumal ein Teil der verschiedenen Aspekte gegen sätzlich war. Ich versuchte, unter Berücksichtigung der aufgezählten Eigenschaften eine Antwort auf die Frage zu formulieren, wo Siad etwas verstecken würde, das letzten Endes zum Abschluss eines Spiels, einer Herausforderung, gefunden werden sollte, und schrieb auf:
Er würde viel Zeit und Mühe investieren, es
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