Circulus Finalis - Der letzte Kreis
nicht leicht machen, aber fair und lösbar; ohne mit seinen außerordentlichen Kenntnissen anzugeben, aber doch ausgefallen. Die Lösung wäre mit einer Überraschung verbunden, möglicherweise der ironischen Art, aber ohne jemanden zu verletzen oder zu brüskieren. Das Versteck wäre nicht so sehr ungeheuer kompliziert oder schwer zu erreichen, als unerwartet und leicht übersehbar.
Ich hatte das Gefühl, damit auf dem richtigen Weg zu sein und eine weitgehende und zutreffende Beschreibung seines Vorgehens in Händen zu halten, aber konkret ergab sich ohne weitere Informationen für mich nichts Zwingendes daraus. Und da mein Kopf schmerzte und ich das Gefühl hatte, die intellektuellen Möglichkeiten der Suche ausgeschöpft zu haben, da die Uhr bereits beinahe fünf zeigte und ich befürchtete, dass die Zeit knapp wurde, daher entschloss ich mich, ab jetzt weniger subtil vorzugehen.
Das Studentenwohnheim war wie ausgestorben, nur ein paar Luftschlangen ringelten sich um das Geländer, und aus dem Keller erklang dumpf Musik. Ich nahm den altersschwachen Aufzug hinauf in den dämmrigen zweiten Stock, um meinen nach wie vor leicht schmerzenden Knöchel zu schonen, und stand vor der Tür zu Siads Zimmer.
Am Rand des Tü rrahmens und unter der Fußmatte suchte ich nach einem Schlüssel, aber Siad war viel zu sehr Experte im Verbergen für ein derartig einfallsloses Versteck, auch wenn es ihm normalerweise um Informationen ging. Einen Moment lang musste ich um seiner selbst willen an ihn denken: Dass er vermutlich nach wie vor in syrischer Untersuchungshaft saß und wahrscheinlich um einiges schlechter dran war als ich. Dann trat ich in Höhe des Schlosses mit aller Kraft des rechten, unverletzten Fußes gegen die lindgrün lackierte Tür.
Es funktionierte. Ein kurzes Bersten des Holzes um den schon abgenutzten Riegel herum, dann sprang die Tü r auf. Schnell trat ich ein, drückte das gesplitterte Holz zurück in die Position, und schloss die Tür wieder. Wichtig war nur, dass ein einziger Tritt ausgereicht hatte; selbst wenn jemand jetzt auf den Gang hinaus sah, gäbe es nichts Verdächtiges zu bemerken, und die Annahme läge nahe, dass nur etwas herunter- oder umgefallen sei in einem der vielen Zimmer.
Ich atmete tief durch; mein erster Einbruch . Dann schaltete ich die billige, grün lackierte Schreibtischlampe an und sah mich um. Ein Zimmer ganz ähnlich wie mein altes, vielleicht war ich auch deshalb ohne große Bedenken hier eingedrungen. In der Ecke ein schmales Bett, ein Nachttisch, darauf eine kompakte Stereoanlage und ein riesiger Kopfhörer. Bücherregalhalter aus grauem Metall, Regalböden in Holznachbildung. Daneben ein Schreibtisch.
Ich sah die Bü cher durch, die so verschiedenartig waren wie Siads Interessen. Einiges mit vagen Bezügen, Bücher über Chiffrierung, über mittelalterliche Geschichte, ein Werk über Architektur im Wandel der Zeit. Ich blätterte sie hastig durch, ohne einen Anhaltspunkt zu finden.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und sah hinaus in den stü rmischen, schnell voranschreitenden Abend. Was hatte ich erreicht? Nichts. Zeit war verstrichen, Zeit, in der Metz und die anderen nicht untätig gewesen sein würden. Ich hatte keine Ahnung, was ihre Absichten waren, aber sie würden sich mein Ausscheren nicht gefallen lassen, so viel war sicher.
In den letzten Wochen hatte ich Siad manchmal verwü nscht, meinen syrischen Freund und seine Vorliebe, Rätsel aufzugeben, ganz abgesehen von der leichtsinnigen Reise in die alte Heimat. Jetzt vermisste ich ihn und war überzeugt, alles wäre machbar und lösbar, wenn ich nur seine Unterstützung hätte. Mein Blick fiel auf ein Exemplar der Abschlusszeitung unseres Jahrgangs, und ich spürte eine aufdringliche Sentimentalität in mir emporkriechen. Jeder Schüler und jede Schülerin war da mit Bild und Steckbrief aufgeführt, lauter optimistische, irgendwie auch trotzige Fotos, bemüht um Eigensinn und eine Frivolität, die, soviel ahnte man schon damals, einen nicht weit bringen würde. Inzwischen waren einige von ihnen Eltern geworden und die Eltern anderer verstorben, Ehen waren geschlossen und mitunter bereits wieder geschieden worden. Ich atmete langsam aus.
Und plö tzlich, von einem Moment auf den anderen, wusste ich, was der Plan darstellte.
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Wie es oft ist mit einer überraschenden Erkenntnis, war das Schwierigste für mich im Nachhinein, zu begreifen, warum sie sich nicht früher eingestellt hatte. Ich sah wieder
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