Circulus Finalis - Der letzte Kreis
hast dich nicht im Griff. Ich gehe zu Lambertus. Das war deine letzte Fahrt.“ Eine leere Drohung zwar, aber ich wollte zumindest sehen, wie er reagierte. Um den Rettungswagen fahren zu dürfen, benötigte man einen eigenen Erlaubnisschein des Severinsbundes. Die Vorstellung, bei Einsatzfahrten rechts sitzen zu müssen, war für Dommel ohne Zweifel erschreckend.
Hinter Dommel war der rotgesichtige, massige Tann, der aus seiner eigenen Blaulichtbegeisterung kaum einen Hehl machte, ans Auto getreten und hö rte ruhig zu. Seine Augen wurden schmal. Dommel stand an der offenen Fahrertür, sich mit der linken Hand am Türrahmen haltend und betont lässig streckend.
„ Wir sollen uns doch mit den Autos vertraut machen. Wollte nur mal sehen, ob das ABS richtig greift.“ Ein schiefes, trotziges Grinsen zeichnete sein Gesicht.
Tann gab der Fahrertü r nur einen winzigen Schubs; gut geölt, wie sie war, machte sie kaum ein Geräusch. Es war Dommel, der dann schrie und den Türrahmen losließ, er stolperte und konnte sich weder mit der gequetschten Linken, noch mit der rechten Hand, die die andere schützte, abstützen. Wie ein nasser Sack fiel er auf die Pflastersteine.
Tann trat einen Schritt auf ihn zu und sah mit einem beinahe wohlwollenden Lä cheln auf ihn herab. „Disziplinarische Maßnahmen von oben brauchen wir hier nicht. Wir können das ganz gut unter uns regeln, nicht wahr?“
Dann ging er, und ich beugte mich zu Dommel hinunter. Ich war zu verwirrt, zu neu hier und zu distanziert, um zu widersprechen. Ein Blick auf die Hand zeigte mir, dass Tann die Tü r nicht nur genau im richtigen Moment, sondern auch mit genau dosiertem Schwung zugeworfen hatte, um sein Opfer schmerzhaft zu erwischen, ohne es ernsthaft zu verletzen. Wo lernt man, diese Art Energie so präzise zu dosieren? Ist das ein Ergebnis des langjährigen Umgangs mit Unfall und Leid?
Ebenso inkonsequent wie wenig ü berraschend war Dommel wütend auf mich, der ich ihm helfen wollte, und zog seine Hand schimpfend weg. Als ich mich aufrichtete, schien mir, jemand habe die Szene vom Fenster aus verfolgt, vielleicht Metz oder Lambertus. Ich fühlte mich unbehaglich.
Anonymität ist Freiheit, das war ein Gedanke, aus dem Fenster meiner Wohnung in den blass blauen Abendhimmel schauend. Achtzig Wohneinheiten, wie man das wohl nennt, und kaum mehr als drei meiner Nachbarn kannte ich flüchtig mit Namen. Überhaupt war es erstaunlich, wie selten man einem anderen Menschen hier begegnete. Selbst morgens oder am späten Nachmittag.
Zwischen zwei Hä usern in einiger Entfernung sah ich durch einen schmalen Einschnitt auf eine Bushaltestelle. Im Vordergrund wischten silbrig graue Autos vorbei wie Erscheinungen. Der Bus, groß und rot, hielt nahe an seinem Umkehrpunkt fahrplangetreu in Abständen von zehn Minuten. Saugte morgens Menschen ein, entließ sie abends wieder in die Freiheit der Anonymität ihrer Wohnblöcke. Es wurde Dunkel, die Zahl der erleuchteten Fenster wuchs, der Verkehr auf der Straße nahm ab, die Busse fuhren spärlicher. Lichter wurden wieder ausgeschaltet, bleich und blau wanderte der Widerschein der Fernsehschirme über kahle Wände.
In meiner Wohnung fehlte diese Art Beleuchtung; allerdings nicht aus einer tiefen Überzeugung heraus. Auf der Wache folgte ich maß- und ziellos den Wendungen und Wirrungen des Fernsehprogramms, den Rate- und Hochzeitsshows, amerikanischen Spielfilmen, deutschen Kopien, Magazinen, Autorennen, Eishockeyspielen. Ich richtete mich nach den Kollegen, es war mir ganz gleich. Wenn das durchdringende Geräusch der Funkmelder dann die Atmosphäre des Raums zerteilte, ging ich ohne Bedauern. Die Handlung des Films verband sich mit dem Geschehen, zu dem wir gerufen wurden, zu etwas Eigenem jenseits der Absichten von Regisseur und Drehbuchautor. Wenn wir zurückkehrten, war die Geschichte am Bildschirm vielleicht noch nicht abgeschlossen; für uns hatte sie in der Zwischenzeit aber eine andere Bedeutung erhalten.
Vor allem sah ich Nachrichten. Die Schleifen der Autobahnen um die Stadt herum waren temporeguliert und gut abgesichert; der erste Verkehrsunfall, der mich wä hrend des Dienstes beschäftigte, war der Tod von Diana Windsor. Mit akribischer, doch distanzierter Neugier verfolgte ich das vielfältige Geschehen auf dem Bildschirm, die sich darbietenden Ausdrucksformen von Leid, Gleichgültigkeit, Hoffnung, Eitelkeit. Der rasende Deutsche im roten Rennauto, bei zunehmender Spannung plötzlich ein Einsatz
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