Circulus Finalis - Der letzte Kreis
entfernt? Wer würde die Blutflecke auswaschen?
Eine Weile trug ich mich mit dem Gedanken, das kleine, graugrü n gestrichene Haus aufzusuchen, anzuläuten und zu fragen, ob es noch etwas zu tun gäbe. Aber vielleicht, sagte ich mir, gab es ja auch Familie. Die würde hinter meinem Angebot allenfalls die Regung eines schlechten Gewissens vermuten oder, was wusste man, Erbschleicherei. Doch auch, falls es niemanden gab: wo anfangen, wo aufhören? Medizinisch gesehen hatten wir alles getan. Als Zuhörer oder Schwiegersohn-Ersatz taugte ich nicht sonderlich gut.
Kaum ein Kollege hä tte widersprochen, dass es Routine war und nur sehr selten persönlich belastete, womit wir tagtäglich zu tun hatten. Die Distanz zwischen mir und den Dingen prädestinierte mich geradezu für diese Art von Tätigkeit. Doch wenn ich erst abends an die Erledigung der Fahrtberichte und Formalitäten ging, die einer Mahlzeit wegen oder angesichts neuer Einsätze liegen geblieben waren - dann hatte ich oft große Mühe, mich zu erinnern, was während des Tages vorgefallen war. Ich lief nicht etwa Gefahr, Details zu verwechseln – nein, es war, als blickte ich auf eine blank gewischte Tafel.
4
Ohne Vorwarnung bremsten wir, wie wir noch nie gebremst hatten.
Ich befand mich unangeschnallt und allein hinten im Patientenraum, um nach dem vorangegangenen Krankentransport aufzurä umen und ein wenig sauber zu machen; wir waren hungrig und wollten schnell zurück zur Wache.
Ich fü rchtete den Aufprall, gleich musste er kommen, griff nach einer Kopfstütze, aber die Kraft der Verzögerung war zu groß, und meine Hand fand keinen Halt an dem glatten Kunstleder. Der Wagen zuckte ein wenig, links, rechts, es schleuderte mich in Richtung Fahrerhaus auf die Trennwand zu. Ich glaubte schon, den Sturz gut abgefangen zu haben, da schlug ich mit dem Schienbein gegen die Metallhalterung des EKGs. Ein Schmerz, als sei der ungeschützte Knochen getroffen worden. Dann standen wir. Kein Aufprall. Ich blickte durch die Trennscheibe nach vorn ins Führerhaus und weiter auf die Straße, keine hundert Meter von unserer Wache entfernt. Erwartete, einen Fußgänger zu sehen, ein quer stehendes Auto, verlorene Ladung, irgendetwas. Aber da war nichts.
„ Dommel!“, schrie ich: Dieses eine Mal, ohne mich um die nötige Lautstärke bewusst bemühen zu müssen.
Schon bevor ich Oliver Dommel kennenlernte, hatte man mir eine ganze Menge über ihn zugetragen. Er absolvierte auf der Wache fünfzehn Monate Zivildienst und durfte dank seines ausgezeichneten Schulabschlusses anschließend mit einem Studienplatz im Fach Psychologie rechnen.
„ Meine natürliche Überlegenheit ein bisschen ausbauen“, wie er sagte, die dunklen Haare zur Maximalhöhe hinauf gegelt. Gerichtsgutachter wollte er umgehend werden, um bald bestmöglich zu verdienen und „nicht zu viel Zeit mit den Verrückten“ zubringen zu müssen. Blaulicht- und Sensationslüsternheit wurde ihm nachgesagt, Arroganz und spätpubertäre Wichtigtuerei. Sogar Kollegen, denen aus diesem Cocktail liebenswerter Eigenschaften auch die eine oder andere Zutat nicht fremd war, schüttelten nur den Kopf und sehnten das baldige Ende seiner Dienstzeit herbei.
So vi el Antipathie erzeugte bei mir schon aus einem Reflex heraus ein gewisses Solidaritätsgefühl, aber er machte es mir nicht leicht, dieses auch über eine erste persönliche Begegnung hinaus zu retten.
Zivildienst zu absolvieren war ihm ganz offensichtlich pei nlich. So stellte er gleich zu Anfang klar, dass er Waffen grundsätzlich faszinierend fände und nur des Geldes willen hier sei: Als Zivildiener ohne Schlafplatz auf der Dienststelle vergüte der Staat ihm etwas mehr als den Kasernenbewohnern. „Außerdem gibt’s nichts über Waffen, was ich da noch lernen könnte.“
Zur Bekrä ftigung seiner Gesinnung zog er ein Foto aus der Jackentasche, das er stets bei sich trug, und das ihn auf einer Motorradtour durch das noch im Kampf um die Unabhängigkeit befangene Kroatien zeigte: Behängt mit Patronengurten zwischen den rohen Steinmauern eines Dorfes. „Zwei Wochen später – alles weg. Bis auf die Grundmauern“, wie er stolz berichtete.
Keine Minute nach der Vollbremsung erreichten wir mit gemäßigtem Tempo die Wache und standen uns gegenüber. Der Schreck war so wenig abgeklungen wie der Schmerz im Bein.
„ Bist du wahnsinnig? Warum bremst du wie ein Irrer?“
Er zwinkerte mit beiden Augen, als blende ihn das Licht, sagte aber nichts.
„Du
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