Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Wache, respektive im Fahrzeug verbringen müssen. Das ging aus einer kurzen Mitteilung Lambertus’ hervor, und war darüber hinaus nur logisch. Für Weihnachten sprach einiges: Keine erhöhte Wahrscheinlichkeit übermäßig alkoholisierter Jugendlicher, keine Verkehrsunfälle ohne Gegenpartei, keine Feuerwerksgeschädigten. Dafür eine leichte Neigung zu Suizid und kerzenromantikbedingtem Zimmerbrand. Vielleicht die Gelegenheit, in Gegenwart derer, die nicht viel zu feiern hatten, eine etwas andere Weihnachtsstimmung zu erleben. Ich erhielt eine Vierundzwanzigstundenschicht, die am Vierundzwanzigsten um achtzehn Uhr enden würde, danach Fondue bei meinen Eltern, was wünschte man sich mehr vom Leben mit fast schon Mitte dreißig. Am nächsten Tag dann Besuch von meiner Schwester mit Mann und zwei Töchtern: Er früher Programmierer, jetzt Abteilungsleiter mit zwölf Leuten unter sich , wie das kurz und prägnant ausgedrückt wurde. Wir verstanden uns ganz gut, er war sehr neutral; in ihren Augen hingegen ein steter Vorwurf, und ich wusste nicht, ob es meine gelegentlichen idealistischen Anwandlungen waren, die sie missbilligte, oder deren Kurzlebigkeit.
Weihnachten also. Rechtzeitig gegen 18 Uhr fand ich mich am Vortag auf der Wache ein. Tann war mein Fahrer. Ich mochte ihn nicht besonders, sein rotgesichtiges, zähnefletschendes Grinsen, seine kaum kaschierte Begeisterung für das Blaulicht, das er nicht als Erlaubnis, sondern als Verpflichtung zur Außerachtlassung aller Verkehrsregeln verstand. Sein Räuspern vor jeder einzelnen Meldung, wenn er funkte: Kein Mensch konnte so viel Schleim im Hals haben. Doch es war nicht irgendein Dienst; wir waren guter Dinge, das Fernsehprogramm abwechslungsreich. Zudem hatten wir Verstärkung: Ein Jungseveriter, ich glaube, so nannten sie sich wirklich. Sein Name war Jost. Sechzehn, gerade fertig mit der Ausbildung zum Sanitäter und entsprechend übermotiviert, würde er zusehen und uns, wo möglich, auch zur Hand gehen. Unwillkürlich zeigten Tann und ich Geschlossenheit und ein besseres Einvernehmen, als wir normalerweise herstellen konnten.
Die Nacht verlief ruhig: Schnittverletzungen durch eine geborstene Aquarienscheibe, in einer muff igen und ohnehin schon feucht riechenden Wohnung, deren brauner Teppich dunkel das Blut aufsog. Gegen vier dann ein eindeutiger, klassischer Herzinfarkt, nicht allzu schwerwiegend. Unser Praktikant: begeistert. Mit euch, sagte er, kann man arbeiten. Den Patienten beruhigen, sagten wir ihm, das ist von größter Wichtigkeit. Selbst Tann zeigte sich von seiner einfühlsamsten Seite.
Am Nachmittag Besuch: Tanns Frau, auch sie eine gewaltige Erscheinung, mit Lebkuchen und Christstollen. Wie abgesprochen und zu meiner großen Überraschung Marie, allerdings mit leeren Händen. Tut so, als kenne sie Tanns Frau schon seit Jahren und unterhalte sich prächtig mit ihr. Versteht den Eindruck zu erwecken, als habe ich ihr das Herz gebrochen, sie grundlos verlassen, aber dennoch, sie verzeiht mir, mehr noch, hat mich nach wie vor gern; freut sich, mir frohe Weihnachten wünschen zu können, da ja alles gut und geklärt ist. Ich bin froh, als der Funkmelder das hübsche Lügengebilde meiner Aufmerksamkeit entrückt.
Unklare Informati onen, Schlägerei an einer Ampel, Notarzt anderweitig im Einsatz, wird nachgeschickt. Tann runzelt die Stirn und zeigt unserem Praktikanten, wie schnell ein Fünftonner beschleunigen kann.
An besagter Ampel, die einen wenig benutzten Ü bergang an einer mehrspurigen Straße in wechselnde Farben taucht, nur ein Mann: Er hält sich am Ampelmast nicht nur fest, er umarmt das kalte Metall geradezu, und dabei zuckt sein Körper leicht. So viel ist zu erkennen, noch bevor Tann das Auto stoppt.
Erste Einschä tzung: voll bei Bewusstsein, was ja auch nicht immer eine Freude ist. Ein tiefer Riss teilt die Oberlippe, der Mann blutet aus dem Mund, der gemusterte Pullover ist besudelt. Tränen auf den Wangen, Atmung normal. Ich nehme seine Hand, taste nebenbei den fliehenden Puls, kein Wunder. In der anderen Hand Bruchstücke einer Zahnprothese.
Tann steigt in den Wagen, um den Notarzt abzubestellen. Ich mö chte den Mann in den Patientenraum geleiten, aber er will den Ampelmast nicht loslassen, bevor er nicht erzählt hat, was geschehen ist. Er ist schwer zu verstehen. Tann kommt wieder mit Tüchern und einer nierenförmigen Schale aus gepresster Pappe. Schließlich begreife ich. Eine kurze Geschichte.
Er unterwegs um
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