Circulus Finalis - Der letzte Kreis
hätte, aber ihr reichte er sogar ritterlich die Hand. Mochte sie vielleicht sogar; meine Befürchtungen waren offensichtlich übertrieben gewesen.
Doch dann fing ihn seine innere Unruhe wieder ein. Die Einserwache hat mal wieder viel zu tun, die letzte Fahrt hä tten beinahe, beinahe schon wir übernehmen müssen. Er erklärte unserem Praktikanten, dem gegenüber er sich angesichts unserer Untätigkeit geradezu schämte, seine Theorie über die genaue Verteilung der Einsatzorte und -arten, der zufolge es in spätestens einer halben Stunde „etwas Ordentliches“ geben sollte. Sonst ginge es nicht mir rechten Dingen zu. Auf irgendeine verschrobene Art fürchtete er wohl, der Sanitätsanwärter, der zu Beginn vollmundig verkündet hatte, er habe sich extra die Schicht mit uns einteilen lassen – da sei ja immer etwas los, das wisse man – könnte ihm allein die Schuld geben, wenn es weiter so wenig lehrreich bliebe. Es begann mich zu ärgern, mal wieder; die latente Eifersucht von morgen auf den S-Bahn-Engel kam hinzu. „Nimm's nicht persönlich“, sagte ich, „aber das ist dämlicher Aberglaube.“
Metz schnaubte. Erklä rte mir mit beherrschter Wut seine statistische Analyse, sein System. Biorhythmus, Verkehrsflüsse, Geschäftszeiten, Großereignisse, Tageslicht, Wetterlage, was weiß ich. Das hatte ich nun auch nicht gewollt. „Zehn zu eins“, sagte er, „in der nächsten Stunde kommen wir dran. Und zwar ordentlich.“ Hanna sah ihn aufmerksam an, und er fühlte sich ermutigt: „Du glaubst wohl an gar nichts, was? Siehst auf alle herab, die Horoskope lesen oder Lotto spielen?“
Zeit fü r meinen Standardsatz, um mich geht es hier nicht , das möglichst ernst, bloß nicht lächeln. Er aber war nicht zu bremsen, die in den letzten Stunden aufgestaute Energie bahnte sich ihren Weg. „Musst du alles verneinen, was du nicht verstehst? Du bist überzeugt, die Welt durchschaut zu haben, weil du annimmst, dass es nichts zu durchschauen gibt. Sehr bequem. Aber wenn jemand an Astrologie glaubt oder sonst irgendetwas – kannst du es widerlegen?“
Ich schü ttelte den Kopf. „Will ich ja gar nicht. Muss ich auch nicht. Wäre völlig sinnlos. Genauso wenig, wie ich beweisen kann, dass es keine Vampire gibt oder UFOs, kein Ungeheuer von Loch Ness. Dass Verschwörungstheoretiker aus einer Fülle von Unbekannten eine ihnen gemäße Gleichung konstruieren, und die Geheimbündler vor allem groß gewordene Pfadfinder sind.“ Einen kurzen Moment war ich versucht, mich weiter zu erklären, aber der Moment ging vorbei. Metz drängte weiter: „Glaubst du an gar nichts? An nichts, was du nicht sehen kannst?“ Hanna sah mich nachdenklich an, nicht unfreundlich, aber wie aus großer Entfernung.
Unser Bewusstsein ist ein verschlunge ner Ort mit einem Abbild dessen, was wir für die Wirklichkeit halten, basierend auf den Wahrnehmungen fehleranfälliger Sinnesorgane. Was heißt das schon, an das zu glauben, was man sehen kann? Unser Gesichtsfeld ist erschreckend klein. Das Gehirn setzt Bilder zusammen, interpretiert und extrapoliert, und liefert uns ein Mosaik, vielfach überformt und ergänzt: unsere Sicht der Welt. Und je mehr wir uns von unseren Erfahrungen entfernen, desto weiter begeben wir uns in ein Niemandsland, in dem sich halbwegs gesicherte Erkenntnisse mit unseren Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten vermischen. Kein Wunder, das dort Platz ist für all die Weltverschwörungen und Geheimbünde, für Monster, Ungeheuer, Fabelwesen und Phobien.
„ Ich glaube sehr viel weniger, als ich sehe“, sagte ich zu Metz. Dann rauschte der Funkmelder, gefolgt von dem durchdringenden Geräusch der Alarmierung. Die Vorhersage hatte sich bestätigt. Seinen triumphierenden Blick im Nacken eilte ich die Treppe hinunter zur Fahrzeughalle.
Es war ein Routinefall, zu dem wir gerufen wurden: Herzbeschwerden, eine zeitweilige Verengung der Gefäße, auch Angina Pectoris genannt, wie der wenig später eintreffende Notarzt attestierte. Der Patient war mit Anfang vierzig noch relativ jung für diese Art Problem. Die Tür wurde uns von einer attraktiven Frau um die Dreißig geöffnet, die sich nicht vorstellte, und die im Gegensatz zu unserem Patienten im Bademantel vollständig angezogen war. Er betonte, dass es ihm bereits wieder sehr viel besser gehe, und dass ein Krankenhausaufenthalt nicht nötig wäre. Der Notarzt war angesichts eines unverdächtigen EKGs und gemäßigter Blutdruckwerte unschlüssig, als sein Funkmelder
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