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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tarek Siddiqui
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Sinn.
    Trotz unendlich vieler willkü rlicher Interpretationen, trotz der Berufung auf die Erkenntnisse anderer Wirrköpfe mit farbenprächtigen Berufsbezeichnungen, deren Unwert ich schon damals erkannte – die genannten Daten gruben sich mir ins Gedächtnis ein. Über Jahre waren sie der Endpunkt der Zeitrechnung eines ansonsten einigermaßen aufgeklärten Heranwachsenden. Es ist die Vorstellung, nicht der Verstand, der uns regiert. Und auch, wenn es um etwas über alle Maßen Unwahrscheinliches geht, wiegt der bloße Gedanke, dass es möglich sein könnte, manchmal schwerer als begründete Zweifel.
    Aber vielleicht gibt es tief in uns auch nur eine fundamentale Lust an der Katastrophenphobie, die die Vision vom Weltuntergang der Wirklichkeit kleinlicher Auseina ndersetzungen und unmenschlicher Trägheit, einer Epoche der Mittelmäßigkeit, vorzieht. Und gelegentlich lässt das erkennbare und alltägliche Übel das Ende der Welt als eine naheliegende Konsequenz erscheinen.

    Rechtzeitig zum nächsten Dienst am 27. Dezember zeigte sich der Körper wieder willig. Für die Zeit zwischen den Jahren hatten sich auch einige Ehrenamtliche einteilen lassen; meine Schicht sollte mittags beginnen.
    Gegen neun Uhr morgens lä utete es an der Tür. Hanna. Mir war klar, dass es alles andere als unmöglich war, mich hier ausfindig zu machen, dennoch fand ich die Situation völlig absurd und schwankte zwischen Amüsement, Überraschung und Verlegenheit. Meine Eltern wussten sie nicht recht einzuordnen und taten das Naheliegende: Sie baten sie an den Frühstückstisch. Danach gingen wir in mein altes Kinderzimmer, aber das hellbraune Furnierholz der Möblierung, der Blick auf verblassende Poster, die Mischung aus Jugendbüchern, altklugen Literatureinkäufen und Schullektüre im Regal, hemmte mich, und es kam kein wirkliches Gespräch in Gang. Sie ging ohne viele Worte darüber hinweg, dass seit unserem Abschied im Mannschaftsquartier mehrere Wochen vergangen waren. Ich fand nur heraus, dass sie seit unserem letzten Treffen wieder einen Anfall erlitten hatte, ja, sie hatte sein Kommen an dem Morgen schon geahnt. In der Bahn war ihr ein Engel begegnet, ein Inder oder Perser, soweit ich verstand; er hatte ihr den Weg nach Hause gewiesen und sie gewarnt, sich nicht zu verlieren. Ich war eifersüchtig, völlig idiotisch, das; auf einen Engel aus der S-Bahn, an den ich niemals glauben würde. Es wurde Zeit, zu gehen; bevor die an den Kanten abgestoßenen Furniere hinter der Kinderzimmertür zurückblieben, nahm sie mein Kinn und küsste mich. Ihre Lippen, das klingt banal, waren ungeheuer weich. Die Augen ließ sie auch während des Kusses offen.

    Gemeinsam fuhren wir in die Stadt und gingen die wenigen Meter zur Wache. Ich gestand mir nicht ein, wie ratlos ich war, und wie glücklich andererseits, dass sie mich begleitete, obwohl die Umstände dafür nicht besonders günstig waren: Ich war mit Metz eingeteilt, der ausgedehnte weibliche Besuche auf der Wache nicht schätzte, noch dazu war Jost wieder dabei, unser Praktikant vom Weihnachtsabend. Das würde Metz Grund genug geben, sich eher streng und förmlich zu zeigen.

    Entsprechend unentspannt war der Nachmittag. Es gab nicht viel zu tun, eine Fehlalarmierung, ein Krankentransport, ein auf Wiedererkennungswert ausgerichtetes Fernsehprogramm. Ich ging mit Hanna und dem Funkmelder in der Tasche eine kurze Runde, in Sichtweite der Wache bleibend. Ein denkbar trostloser Spaziergang an mit Rostschutzfarbe lackierten Metallzäunen entlang, darüber die Betonstelzen der Autobahn. Einzelne Schneeflocken wehten durch die Luft, um sich aufzulösen, sobald sie die viel zu warme Erde berührten. Hanna nahm meine Hand, und obwohl uns niemand sah, fühlte ich mich unwohl in meiner Uniform, sie in hellen, weichen Stoffen daneben – es wunderte mich, dass sie nicht fror. Ihre Hand fühlte sich gut an, fast neutral, weder warm, noch kalt.

    Gegen fünf, als Metz sich anschickte, seine angesichts ausbleibender Einsätze übliche Frustwanderung aufzunehmen, machte ich den Vorschlag, wir könnten Scrabble spielen. Metz sah mich an, als habe ich den Verstand verloren, zuckte dann aber mit den Achseln und saß bald schon umso verbissener ins Spiel vertieft. Gegen Hanna hatte er trotzdem keine Chance, die Buchstaben fanden wie von selbst aus ihrer Hand den Weg auf das Feld, um längere und immer längere Worte zu bilden. Mit mir hätte er wahrscheinlich eine Weile nicht geredet, wenn ich gewonnen

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