Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Umweg wert sei, wenn auch nicht jede Grausamkeit, und dass der letzte und größte Umweg des Menschen zum Wissen die Nähe des Todes sei, in der er durchlässig werde für die Lüge und wo nur mehr die Wahrheit aus ihm spräche; in der er auch durchlässig werde für die Reihenfolge der Ereignisse, so dass Vergangenheit und Zukunft ineinanderflossen. Er schrieb von den Verwundeten und Sterbenden, von ihren letzten Worten – und er verpflichtete sich der Aufgabe, diese Erkenntnis an jene weiterzugeben, die sich ihrer würdig erwiesen. So entstand der Circulus Finalis , der Kreis jener, die sein Geheimnis schützen, und die dafür sorgen, dass es versteckt bleibt und nur den Würdigen zugänglich wird bis zum heutigen Tag. Die Mitglieder des Letzten Kreises waren Menschen, die sich nicht nur der Pflege der Verwundeten widmeten, sondern die auch bereit waren, ihre letzten Wahrheiten zu bewahren. Über die Jahrhunderte hatten sie so Prophezeiungen aufgezeichnet, Weisheiten und Kenntnisse, die Macht verliehen. Doch galt ihnen dieses Wissen als heilig, und sie gestatteten nicht, dass es für profane Zwecke missbraucht wurde. Sie trachteten nicht nach Ausbreitung, ein einziges Kloster bewahrte ihr Wissen. Leicht hätten sie Reichtümer anhäufen können, doch folgten sie dem Beispiel Sarazuls und lebten einfach und in der festen Überzeugung, dass Wohlstand und Luxus sie der Gedankenwelt der Menschen entfernen könnten, und es ihnen unmöglich machen würde, die letzten Gedanken der Sterbenden zu verstehen.
Während ich sprach, spürte ich die Augen der drei anderen auf mir und ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, und entgegen meiner sonstigen Neigung genoss ich das in diesem Augenblick. Im Nachhinein scheint mir, als ob sich schon in diesem Moment eine Verschiebung der Werte ereignet hätte, fast ohne mein Zutun, eine kleine Rutschung, etwas, das ich nicht bemerkte, und das sich nicht einfach wieder rückgängig machen ließ. Hannas Blick blieb unverwandt, und ich fragte mich, ob sie meine Geschichte durchschaute. Metz fragte, woher ich das habe. Ich sah ihm im Halbdunkel ins Gesicht.
„ Das kann ich nicht sagen.“ Und, einer Eingebung folgend: „Vielleicht hätte ich es gar nicht erzählen sollen.“
Er rü hrte sich nicht. Nach einer Pause sagte er. „Doch. Das war ganz richtig.“ Und dann: „Irgendwie habe ich immer gewusst, dass da mehr dahinter steht.“
Offensichtlich hatte meine kurze Geschichte einen bestimmten Ton getroffen. Er sah in die Runde; Jost nickte schweigend. Hanna beobachtete aufmerksam die Reaktionen. Nur ich, so schien es, wusste nicht genau, was er meinte.
14
Noch vor Sonnenaufgang verabschiedete Hanna sich mit einem flü chtigen Kuss und einem Lächeln: Sie müsse jetzt gehen. Blaues Licht kündigte die Dämmerung an; ich brachte sie zur Tür und sah ihr nach, wie sie mit ihren weiten, hellen, viel zu leichten Gewändern im Nebel verschwand. Für eine kurze Weile noch klang das leise Echo ihrer leichten Schritte auf dem Pflaster nach.
Metz sah mich mit einem beinahe mitleidigen Blick an, aber bald war er in Gedanken; ich sah, dass ihn etwas beschä ftigte. Schließlich setzte er an: „Diese Geschichte, vorhin...“, wusste aber nicht weiter, und ich half ihm nicht.
Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten unser kü hles, sachliches Verhältnis ein wenig verschoben. Ich wusste nicht genau, in welche Richtung, und eigentlich war es mir auch egal; worin diese Veränderung auch bestehen mochte, ich war mir sicher, dass sie nicht lange anhalten würde. Aber darin sollte ich mich täuschen.
Wegmann erschien in der Tü r, viel zu früh wie üblich zur Ablösung. Wir frühstückten gemeinsam, er erkundigte sich nach den Einsätzen der Nacht und schlug sich geräuschvoll auf die Schenkel, als er von dem glimpflich ausgegangenen Autounfall erfuhr. „Warum passiert mir nie so etwas!“ Metz ließ mich, während er erzählte, nicht aus den Augen.
Zuhause in meinem kleinen Zimmer fiel ich bald in einen erschöpften, traumlosen Schlaf, und als ich mich am frühen Nachmittag endlich aus der Decke schälte und überlegte, wie der Tag weiter zu verbringen sei, waren die Ereignisse der letzten Nacht längst kategorisiert, verarbeitet, und fast schon vergessen. Kurz dachte ich an Hanna, aber in diesem Augenblick war ich eigentlich froh, ganz für mich zu sein, und sagte mir, nicht ohne Zweckoptimismus, dass es einen gewissen Reiz hatte, nicht vorhersehen zu können, wann sie wieder auftauchen
Weitere Kostenlose Bücher