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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tarek Siddiqui
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und Sinn der Geschehnisse und den Unwägbarkeiten der Zukunft. Mir grauste. Und doch lag da die Tapetenrolle vor mir, auf deren geprägter Oberfläche ich mich abmühte, um ein solches Glaubenssystem zu erschaffen. Ein Experiment, wie ich mir sagte; ein Experiment im Labor der Leichtgläubigkeit. Der Aberglauben als Gegengewicht zu einem abgestumpften Materialismus.

    Eine Viertelstunde vor Mitternacht wurde es laut, Knall und Donner und die ersten Raketen. Von meinem Platz am Boden sah ich die gegenüberliegenden Wohnblocks nicht, nur den dichter werdenden Rauch des Feuerwerks an einem weiten Himmel. Von Zeit zu Zeit blickte ich auf, nahm einen Schluck aus dem Weinglas; alles in allem ein guter Jahresbeginn.
    Bis in die frü hen Morgenstunden arbeitete ich, vom Rotwein beflügelt. Zuletzt schrieb ich auf, was in den kommenden Tagen zu tun sei, um meiner Geschichte Leben einzuhauchen, ganz so, wie Metz es wollte. Ich war müde inzwischen, doch konnte ich mich nicht entschließen, mein Matratzenlager aufzusuchen: Es fehlte noch etwas. Ein Erkennungszeichen, ein Name.
    Ich nahm mir wieder die Tapete vor. Sarazul, stand in der Mitte, rund herum hatt e ich verschiedene Aspekte der Geschichte angeordnet. Zwei geschwungene Linien verbanden das Zentrum mit nachträglichen Zusätzen. Aus der Entfernung sah das Ganze fast wie ein angedeutetes Auge aus, und ich musste an unseren Patienten denken, kurz nach dem Herztod, mit sich entrundenden Pupillen. Am Rand machte ich eine Skizze: Ein durchbrochener Kreis die Pupille, darin statt einer Iris ein aus zwei geschwungenen Linien bestehendes Kreuz. Ein Bogen darüber und einer darunter, um das Auge anzudeuten. Ich sah mir das Ergebnis eine Weile an, mit schräg gelegtem Kopf wie ein Künstler. Dann schrieb ich darunter
    Circulus Finalis,
    nahm einen letzten Schluck Wein und ging zu Bett.

15
    Für Urlaub hatte ich eigentlich wenig Verwendung: Reisen reizten mich nicht sonderlich, und trotz der Nachtdienste und der zeitweise anstrengenden Arbeit ging es mir körperlich ausgezeichnet. Jetzt aber traf es sich gut, dass ich mir ein paar Tage gleich zu Jahresbeginn von Lambertus hatte aufdrängen lassen.
    Zweimal noch rief Metz an, mit einem befremdlichen, von Respekt, fast schon von Ehrfurcht verschleierten Drä ngen in der Stimme. Ich rechnete mir aus, dass er inzwischen mindestens gegenüber der Hälfte der Kollegen irgendwelche Andeutungen gemacht haben würde. Wenn es jetzt nicht bald neues Material gab, musste die Neugier, die zu erzeugen die Angelegenheit offensichtlich in der Lage war, ins Leere laufen. Zwischenzeitlich war ich versucht, das Rätsel einfach aufzulösen, aber ich glaubte doch, hier eine Verantwortung zu haben und die Sache nicht ohne weiteres beenden zu können. Außerdem gab mir das zu tun, während Hanna mir fern war, und zwar etwas, das mir half, mich ihr um ein Weniges näher zu fühlen.

    Am zweiten Januar nahm ich den Bus in Richtung Zentrum, stieg dort in die Bahn in die Landeshauptstadt um, und fuhr weiter mit der Straßenbahn zur Hochschule. Ein paar Dosen und die Hülsen vereinzelter Silvesterraketen lagen in Sichtweite meines alten Fensters vor dem Wohnheim; es war wenig los, aber Siad war da. Wir trafen uns in der Mensa; er schmuggelte mich ein und wir nahmen ein matschiges Brokkolisoufflé zu uns, das eine traurige Berühmtheit auf dem Speiseplan darstellte. Ich hatte das Gefühl, in mein altes Zuhause zurückzukehren, obwohl mir sehr bewusst war, dass ich es nicht als Zuhause empfunden hatte, als ich noch hier studierte.
    Siad kannte ich flü chtig schon von der Schule her; er war ein knappes Jahr jünger als ich. An der Uni waren wir uns wieder begegnet und hatten uns angefreundet, und obwohl wir so gut wie alles sehr unterschiedlich angingen, war das mehr als eine Notgemeinschaft. Seine Eltern stammten aus Syrien, sie waren bald nach seiner Geburt nach Deutschland ausgewandert. Für Siad war der deutsche Staat sein Wohltäter, mehr eine Person als eine Institution, und im Innersten war er vermutlich tief davon überzeugt, dass die Beamten, die einst seiner Einbürgerung zugestimmt und das amtliche Siegel aufgedrückt hatten, es erführen, wenn er sein Studium abschlösse, und sich sagen würden: Das war die richtige Entscheidung, haben wir doch gewusst, dass der Junge uns nicht enttäuschen wird. Nicht besonders groß, aber muskulös und zäh zugleich, mit fliegenden Händen und immer etwas übertriebenen wirkenden Gesten; man hätte ihn sich auch

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