Circulus Finalis - Der letzte Kreis
mich: Wenn man eine solche Geschichte erfinden und verbreiten wollte – wie musste sie beschaffen sein, um zu überdauern?
Manche Ideen haben, was es braucht, um sich in den Kö pfen festzusetzen und in die ganze Welt getragen zu werden, so wie manche Lebewesen und deren Gene. Nicht zufällig waren es Biologen, die auf diese Parallele aufmerksam gemacht hatten – und denen wir auch die Klarstellung verdankten, dass erfolgreich in diesem Zusammenhang keine qualitative oder gar moralische Bedeutung hat, sondern sich nur auf die originalgetreue Vervielfältigung bezieht. Ich riss eine Ecke von der Tapete ab und begann, mir Notizen zu machen.
Die Idee musste mö glichst einfach sein. Einfach zu verstehen, so einfach, dass es möglich war, sie in wenigen Worten treffend weiterzugeben. Sie sollte aber andererseits hinreichend ungewöhnlich sein, um Interesse zu wecken, und es würde nicht schaden, wenn ein Schleier von Geheimnis ihre Einfachheit ein wenig verbarg. Sie durfte ruhig zum Zweifel reizen, sollte aber nach Möglichkeit zumindest in der Zielgruppe niemanden kalt lassen, nicht einmal die Art von Mensch, wie ich einer war. Einer objektiven Überprüfung sollte sie möglichst lange widerstehen; im günstigsten Fall gäbe es Erklärungen und Auswege für eventuelle Diskrepanzen, die vielleicht einen Skeptiker nicht zu überzeugen vermochten, wohl aber den, der gewillt war, zu glauben. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt waren, dann konnte sich die Idee mit fast maschineller Präzision verbreiten. Plötzlich musste ich an meinen früheren Kommilitonen Siad denken, der davon träumte, dass die Siliziumchips eines Computers eine kritische Masse erreichten, die es ihnen erlauben würde, eigenständig Informationen zu sammeln und zu kategorisieren und daraus zu lernen, weiter und immer weiter. Überhaupt war Siad sehr begeisterungsfähig: ganz in den Dingen, ganz in dem aufgehend, was er gerade tat. In dieser Hinsicht hätten wir verschiedenartiger nicht sein können. Es wurde bei ihm jedoch nie so etwas wie Besessenheit aus der Begeisterung, da sich, bevor es so weit kommen konnte, etwas anderes fand, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich schrieb seinen Namen in eine Ecke und unterstrich ihn trotz meiner Abneigung gegen Hervorhebungen doppelt. Wenn es mir gelänge, ein Konzept zu entwickeln, das die nötigen Voraussetzungen erfüllte, um sich festzusetzen und zu verbreiten, dann mit seiner Hilfe.
Wo sollte ich beginnen, worauf aufbauen? Mit einer Wesenheit, die den uns verborgenen Sinn der Welt verwaltet? Unser Denken verlangt nach einer verantwortlichen Instanz für das, was wir nicht wissen und nicht beeinflussen können. Aber einen personifizierten Allmächtigen wollte ich nicht. Das war abgegriffen und passte nicht mehr in die Zeit. Vielmehr ein stimmiges Konzept mit dem Tod als Übertritt in ein transparentes Reich der Gleichzeitigkeit, in dem die Lüge sinnlos wird, weil alles durchscheint. Es musste etwas sein, das sich im Kopf festsetzt.
Beispiel Astrologie: Ein ungeheures kommerzielles Unternehmen mit dem Anspruch, Wissenschaft zu sein, nein, über der Wissenschaft zu stehen. Und obwohl die Zuverlässigkeit der Vorhersagen keinerlei Überprüfung standhalten kann, berufen sich Millionen intelligenter Menschen darauf, dass an den vage verschiedenen Sternzeichen zugeschriebenen Charaktereigenschaften zumindest „etwas dran“ sei. Ist eine Übereinstimmung beim besten Willen nicht zu erkennen, dann gibt es als Alternative noch den Aszendenten: Und wenn selbst das nicht weiterhilft, dann liegt offensichtlich eine Planetenkonstellation vor, die über den Verstand des Unkundigen geht. Wen stört es schon, dass durch die Bewegung der Erdachse heute die Sonne längst nicht mehr im Mai das Sternbild Stier durchquert, sondern im März?
Ich musste an Marie denken. Wer hat nicht schon erlebt, wie schädlich es im zwischenmenschlichen Bereich ist, wenn man seine Wünsche mit dem verwechselt, was ist? Aber im spirituellen Denken, das doch unsere gesamte Weltsicht prägt, lassen wir uns von unseren Wünschen leiten, und räumen Täuschungen und überkommenen Dogmen unermesslich viel Raum und Macht ein. Im Grunde, dachte ich, funktionierte das alles auf die gleiche Weise: Weltreligionen, Sekten, Aberglauben, die einander da, wo sie auch nur ein kleines bisschen konkret werden, gegenseitig ausschließen. Der Glaube als das größte Geschäft auf dem Planeten. Angetrieben von den Ungewissheiten bezüglich Ursache
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