Circus
Augenbrauen gestattete er sich diesmal doch. »Warum sollte irgend jemand so etwas tun? Warum sollte überhaupt jemand gegen sie losgehen? Ich kenne meine Brüder besser als irgend jemand sonst, und ich weiß ganz sicher, daß sie noch nie jemandem etwas Böses getan haben.«
Sergius sah ihn mitleidig an. »Wissen Sie nicht, daß es immer die Unschuldigen sind, die leiden müssen? Wenn man einen Einbruch machen will, sucht man sich dafür doch auch nicht das Haus eines notorischen Gangsters aus.« Er wandte sich an einen seiner Untergebenen. »Holen Sie das Funktelefon her und verbinden Sie mich mit dem Verkehrsminister. Nein, sprechen Sie mit ihm. Wenn er sich beschwert, so früh aus dem Bett geholt zu werden, geben Sie mir den Apparat. Sagen Sie ihm, daß ich wünsche, daß jeder Zentimeter neben den Gleisen der Strecke von hier bis zur Hauptstadt nach zwei vermißten Männern abgesucht wird. Sagen Sie ihm, es sei dringend. Sagen Sie ihm, daß die beiden vielleicht schwer verletzt sind und daß die Temperatur unter dem Gefrierpunkt liegt. Sagen Sie ihm, ich wünsche in zwei Stunden einen Bericht. Und dann rufen Sie die Luftwaffe an. Sagen Sie ihnen das gleiche, allerdings sollen sie mit Hubschraubern suchen. Und deren Bericht will ich in einer Stunde haben.«
Wrinfield fragte: »Sehen Sie wirklich ernsthaft die Möglichkeit …«
»Ich sehe gar nichts. Es ist die Aufgabe eines Polizisten, keine Möglichkeit außer acht zu lassen. In einer Stunde werden wir mehr wissen. Ich habe kein Zutrauen zu diesem alten, vertrottelten Verkehrsminister, aber ich habe ja auch die Luftwaffe alarmiert, und das ist schon etwas ganz anderes. Die haben da Piloten, die in zehn Metern Höhe fliegen, und auf beiden Seiten sitzen geübte Beobachter.« Er sah Bruno mit einem Gesichtsausdruck an, der wahrscheinlich mitfühlend sein sollte: »Ich fühle mit Ihnen, Mr. Wildermann, und mit Ihnen auch, Mr. Wrinfield.«
»Mit mir?« fragte Wrinfield. »Zugegeben, zwei meiner besten Artisten sind verschwunden. Zugegeben, ich hielt große Stücke auf sie. Aber das taten auch Dutzende von anderen Leuten beim Circus – nein, eigentlich alle.«
»Die anderen werden aber nicht bezahlen müssen. Ich gebe nur die Möglichkeit zu bedenken. Und wenn sie zuträfe, dann würden Sie eine ganze Menge Geld bezahlen, um die beiden wieder zu bekommen, oder?«
»Wovon sprechen Sie eigentlich?«
»Nun, sogar in unserem herrlichen Land gibt es zwielichtige Gestalten. Und sogar Kidnapper – und zwar solche, deren Spezialität es ist, ihre Opfer aus Zügen zu zerren. Und diese Männer wissen, daß sie alles riskieren, denn Kidnapping ist in unserem Land ein Kapitalverbrechen.« Er sah wieder Bruno an, und der Briefkastenschlitz, den er anstatt eines Mundes hatte, öffnete sich einen Spalt breit: Sergius lächelte. »Für uns ist dieser schreckliche Vorfall noch aus einem anderen Grunde tragisch: Im Augenblick sieht es ganz so aus, als würden wir um den Genuß gebracht, die ›Blinden Adler‹ in Crau zu sehen.«
»Einen von ihnen werden Sie auf jeden Fall sehen.«
Sergius sah ihn an. Ein Dutzend Leute sahen ihn an. Maria fuhr sich langsam mit der Zunge über die Lippen. Sergius fragte: »Soll das heißen …«
»Bevor meine Brüder alt genug waren, um in meine Nummer einzusteigen, war sie eine Solonummer. Wenn ich ein paar Stunden übe, schaffe ich sie auch heute noch.«
Sergius schaute ihn einen Augenblick lang nachdenklich an. »Wir wissen alle, daß Sie keine Nerven haben. Haben Sie auch keine Gefühle?«
Ohne zu antworten, drehte Bruno sich um und ging davon. Sergius sah ihm einen Moment lang gedankenvoll nach, dann besann er sich wieder auf seine Pflichten. »Sind alle aus dem fraglichen Waggon hier?«
»Alle da, Oberst«, sagte Wrinfield. »Aber Sie äußerten die Ansicht, daß Kidnapper …«
»Daß es vielleicht Kidnapper waren. Und Sie haben wohl auch gehört, was ich sagte – daß es die Aufgabe eines Polizisten ist, keine Möglichkeit außer acht zu lassen. Hat einer von Ihnen während der Nacht irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche gehört?« Aus dem tiefen Schweigen, das ihm antwortete, war deutlich zu ersehen, daß keiner der Anwesenden etwas gehört hatte. »Na schön. Die Brüder schliefen im letzten Abteil des Waggons. Wer hat das Abteil daneben?«
»Ich«, sagte Kan Dahn und schob seinen massigen Körper auf Sergius zu.
»Aber Sie haben doch sicher irgend etwas gehört?«
»Ich habe Ihre Frage schon eben nicht
Weitere Kostenlose Bücher