Circus
nacht. Ich möchte wissen, wo wir dann alle sein werden.« Mit viel Metallkreischen und Schütteln setzte sich der Zug langsam in Bewegung.
»Ich weiß, wo wir sein werden. Bis bald.« Bruno wandte sich zum Gehen, blieb aber beim Anblick von Harpers Minisender, der auf dem Schreibtisch stand, abrupt stehen. »Sagen Sie mir eins: Wie kommt es, daß unsereinem beim Zoll in manchen Ländern sogar die Zahnfüllungen entfernt werden, während man Sie mit diesem Funkgerät ungeschoren durchläßt?«
»Funkgerät? Was für ein Funkgerät?« Harper setzte sich die Kopfhörer auf, drückte das Mikrophon gegen Brunos Brust, schaltete das Gerät ein und legte den Übertragungsschalter nach rückwärts um, anstatt nach vorn. Das Gerät summte, und ein schmaler Papierstreifen erschien aus einem kaum sichtbaren Schlitz in der Seite. Nach etwa zehn Sekunden schaltete er das Gerät wieder aus, riß den Papierstreifen ab und reichte ihn Bruno. Eine Wellenlinie war alles, was darauf zu sehen war. »Dieses ist ein EKG-Gerät, mein lieber Bruno. Jeder reisende Arzt braucht das. Sie können sich nicht vorstellen, was es mir für einen Spaß gemacht hat, bei allen Zollbeamten ein EKG zu machen.«
»Was wird denen wohl als nächstes einfallen«, sagte Bruno kopfschüttelnd. Er ging den Flur des jetzt leicht schwankenden Zuges entlang, holte Maria in ihrem Abteil ab und ging mit ihr in seine Suite.
»Wollen wir ein bißchen Musik machen?« fragte er. »Etwas Romantisches, das zur Situation paßt? Und dann wollen wir mit ein paar meiner unvergleichlichen Martinis meinen bevorstehenden Abstieg in die Hölle der Ehe feiern. Und dann wäre da noch die Möglichkeit, dir ein paar liebe Sachen ins Ohr zu flüstern – aber das muß natürlich nicht sein, wenn du nichts davon hältst.«
Sie lächelte. »Das hört sich alles sehr schön an, vor allem das mit den lieben Sachen.«
Er machte den Plattenspieler an und ließ ihn leise laufen, mixte die Martinis, stellte die Gläser auf den Tisch, setzte sich neben Maria auf das Sofa und preßte seine Lippen an der Stelle in ihre dunklen Haare, wo er ihr Ohr vermutete. An Marias zuerst erschrockenem und dann fassungslosem Gesichtsausdruck konnte man deutlich erkennen, daß Brunos ›liebe Sachen‹ von ganz außergewöhnlicher Art sein mußten.
Crau lag nur knapp zweihundert Meilen weit entfernt, und so brauchte auch ein notwendigerweise langsam fahrender Güterzug selbst mit zwei Aufenthalten nicht mehr als eine Nacht dorthin. Sie fuhren bei Dunkelheit ab und kamen bei Dunkelheit an, und es war immer noch dunkel, als sie ausstiegen. Und außerdem war es schneidend kalt. Der erste Eindruck von Crau war der von kahler Unfreundlichkeit, aber Bahnhöfe haben auf der ganzen Welt nichts besonders Anheimelndes, und vor allem nicht bei Nacht und Kälte. Die Stelle, an der der Zug gehalten hatte, war unbequemerweise eine Dreiviertelmeile von der Halle entfernt, in der der Circus gastieren würde, aber das Organisationsgenie Wrinfield und sein Mitarbeiterstab hatten mit der üblichen Perfektion funktioniert, und so wartete bereits ein ganzes Heer von Bussen, Lastwagen und Personenwagen darauf, den Circus und alles was dazugehörte, an Ort und Stelle zu bringen.
Bruno ging am Gleis entlang auf eine Gruppe von Circuskünstlern und Handwerkern zu, die zitternd unter dem kalten Lichtschein einer Bogenlampe standen. Nach dem üblichen guten Morgen hielt er Ausschau nach seinen beiden Brüdern, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Schließlich wandte er sich an Malthius, den Tigerdompteur, der neben ihm stand.
»Hast du irgendwo meine Brüder gesehen? Die beiden sind immer hungrig und versäumen es eigentlich niemals, mit mir zu frühstücken, aber heute morgen hatte ich nicht das Vergnügen.«
»Nein.« Malthius rief in die Runde: »Hat irgend jemand heute früh schon Vladimir und Yoffe gesehen?« Als sich herausstellte, daß niemand sie gesehen hatte, wandte sich Malthius an einen seiner Hilfsdompteure. »Geh sie mal wecken, okay?«
Der Mann nickte und ging. Dr. Harper und Wrinfield, beide mit Pelzmützen und hochgeschlagenem Mantelkragen, kamen heran und sagten guten Morgen. »Wollen Sie mitkommen und sich ansehen, wo wir hier gastieren werden?« fragte Wrinfield Bruno. »Aus irgendeinem Grund heißt der Bau ›Winterpalast‹, obwohl ich nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem in Leningrad feststellen kann.« Er schauderte zusammen. »Die Zentralheizung soll geradezu traumhaft funktionieren.«
»Ja,
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