Circus
ich komme gern mit – wenn Sie noch einen Augenblick warten: Zwei der ›Blinden Adler‹ scheinen verschlafen zu haben.«
Mit drängender Stimme sagte Malthius' Assistent: »Ich glaube, du solltest dir das selbst ansehen, Bruno. Komm schnell!« Ohne ein Wort sprang Bruno in den Zug. Dr. Harper und Wrinfield tauschten einen verständnislosen Blick und eilten dann hinter ihm her.
Vladimir und Yoffe hatten sich ein Zweibettabteil geteilt, das zwar nicht so luxuriös ausgestattet war wie das ihres großen Bruders, aber trotzdem sehr komfortabel. Sie waren mit der Zeit für ihre schon fast zwanghafte Ordnungsliebe bekanntgeworden und wurden ständig damit aufgezogen. Sie wären verzweifelt gewesen, wenn sie ihre Kabine in ihrem derzeitigen Zustand gesehen hätten.
Sie sah aus, als habe ein kleiner, aber sehr zielstrebiger Tornado durch sie hindurchgefegt: Das Bettzeug lag auf dem Boden, zwei Stühle waren zerbrochen, Gläser lagen zersplittert herum, ein kleines Waschbecken war in Scherben gegangen, und sogar ein Fenster aus schwerem Plattenglas war von einem Netz feiner Sprünge durchzogen. Aber am besorgniserregendsten waren die Blutflecken auf den zerrissenen Laken und an den cremefarbenen Wänden. Bruno wollte in die Kabine stürmen, aber Dr. Harper hielt ihn am Arm zurück.
»Bleiben Sie hier, die Polizei wäre nicht damit einverstanden.«
Die Polizei war hell entsetzt, daß es in ihrem Lande möglich war, daß zwei berühmte Circusartisten entführt wurden – falls sie wußten, daß Vladimir und Yoffe weniger als eine halbe Meile von der Stelle, an der sie sich im Augenblick befanden, geboren worden waren, so behielten sie ihr Wissen für sich. Der Inspektor, dem der Fall übertragen worden war, versicherte, daß sofort eine gründliche Untersuchung stattfinden werde. Zunächst einmal müsse das Gebiet vollkommen geräumt und durch einen Kordon seiner Leute abgeriegelt werden, was bedeutend weniger eindrucksvoll war als es sich anhörte, denn das Abriegeln bestand lediglich darin, daß er zwei seiner Leute auf dem Korridor postierte. Die Bewohner des Waggons, in dem die Kabine der beiden Brüder lag, wurden gebeten, sich zur Verfügung zu halten. Als Befragungsraum schlug Wrinfield den Speisewagen vor – draußen lag die Temperatur unter dem Gefrierpunkt –, und der Inspektor war einverstanden.
Als sich die Leute entfernt hatten, trafen Detektive in Zivil und Fingerabdruckexperten ein. Nachdem Wrinfield Anweisung gegeben hatte, mit dem Entladen des Zuges weiterzumachen, beschloß er, sich ebenfalls in den Speisewagen zu begeben.
Die Hitze im Speisewagen war beinahe unerträglich – die riesige Lokomotive war noch nicht abgekoppelt und würde es auch den ganzen Tag nicht, damit die Tiere die nötige Wärme hatten, bis sie abends zum Circus gebracht wurden.
Bruno stand etwas abseits mit Wrinfield und Dr. Harper zusammen. Sie diskutierten kurz, was mit den Brüdern passiert sein konnte, und vor allem warum. Aber da sie ganz offensichtlich keine Antwort auf diese beiden Fragen finden konnten, verfielen sie bald in brütendes Schweigen und sprachen erst wieder, als der große Oberst Sergius höchstpersönlich auf dem Plan erschien. Sein Gesicht war von harten, bitteren Falten durchzogen, und er vermittelte sehr überzeugend den Eindruck, als könne er seinen Zorn nur mit Mühe unter Kontrolle halten.
»Himmelschreiend!« ereiferte er sich. »Beschämend! Unglaublich! Das so etwas Gästen meines Landes zustoßen muß! Ich verspreche Ihnen, die gesamte Kriminalpolizei des Landes wird sich mit dem Fall befassen. Was für ein Empfang und was für ein schwarzer Tag für unsere Stadt!«
»Diese Sache kann kaum einem Bürger von Crau in die Schuhe geschoben werden«, sagte Dr. Harper milde. »Die beiden waren schon weg, bevor wir hier ankamen. Wir hatten auf dem Weg hierher zwei Aufenthalte. Es muß bei einem der beiden passiert sein.«
»Stimmt, stimmt, Crau ist entlastet. Aber glauben Sie, daß das die Sache für uns erträglicher macht? Was unser Land betrifft, betrifft uns alle.« Er machte eine kurze Pause, seine Stimme hatte einen tieferen Tonfall angenommen. »Es muß nicht bei einem der beiden Aufenthalte geschehen sein.« Er wandte sich an Bruno: »Es tut mir leid, so brutal sein zu müssen, aber es könnte doch auch sein, daß sie aus dem fahrenden Zug geworfen wurden.«
Bruno starrte ihn nicht fassungslos an – dazu hatte er seine Emotionen zu gut unter Kontrolle –, aber ein Heben der
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