Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Skelton
Vom Netzwerk:
Nummer 4.002, du bist hiermit Gehilfin bei Madame Orrery, Midas Row.«
    Ein Dienstmädchen kam mit einem Kleiderbündel. Der Vorsteher drückte es Pandora in die Hand, dann führte er sie aus dem Zimmer, über etliche Flure und die Treppe hinunter zum Ausgang.
    »Sie müssen mir wirklich gestatten, nach Ihrer Gicht zu sehen«, sagte Madame Orrery, während er neben ihr her hinkte.
    »Schon gut, Madame Orrery«, sagte er. »Ich kann ganz gut damit leben. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen möchten …« Er verbeugte sich und eilte davon.
    Pandora sah ihm nach. Bis auf wenige Jahre auf dem Land in der Obhut einer Amme, von der sie schlecht behandelt worden war, hatte sie ihr ganzes Leben innerhalb der Grenzen des Findelhauses verbracht, war immer zeitig aufgestanden, hatte ihre Arbeit getan und sich um die jüngeren Mädchen gekümmert – und jetzt auf einmal öffneten sich die Türen und stießen sie hinaus. Sie verließ das Heim fast so, wie sie es betreten hatte: in Begleitung einer Frau, die sie nicht haben wollte.
    Sie blinzelte ins Tageslicht, das ihr grell in die Augen stach, und ging auf das Tor zu.
    Erst bei dem Eisenzaun, der das Heim für Findelkinder von der Außenwelt trennte, blieb Madame Orrery stehen, um ihren jungen Schützling genauer zu betrachten. In ihrem Gesicht stand deutliches Missfallen.
    »Was bist du für ein einfältiges Mädchen«, sagte sie. »Hast du denn keinen Koffer? Keine anderen Habseligkeiten?«
    Pandora schüttelte den Kopf, ihre Stimme hatte sich tief in ihr Innerstes verkrochen. Das Wenige, das sie besaß – außer dem Bündel mit etwas Wäsche zum Wechseln, das ihr Mr Chalfont hastig in die Hand gedrückt hatte –, trug sie auf dem Leib. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, das einzige Stück, das ihr ganz allein gehörte, aus dem Versteck unter ihrem Kopfkissen im Schlafsaal der Mädchen zu holen: ein Buch, das sie von Miss Stitchworthy, der Lehrerin, als Auszeichnung für ihre außergewöhnliche Fertigkeit im Lesen bekommen hatte. Sie warf einen Blick auf die Fenster hoch über ihr, aber da waren nirgendwo freundliche Gesichter, die sie zum Abschied getröstet hätten.
    »Nun gut, Kind. Komm schon.«
    Am Tor waren zwei Kutschen vorgefahren, und Pandora zwängte sich in die, deren Tür mit einer Uhr aus silbernem Emaillelack verziert war. Die Sitze waren mit einem dünnen, doch luxuriösem Überzug aus gemustertem Seidenstoff bespannt, der allerdings wenig nützte, um das harte Holz ein wenig abzupolstern. Madame Orrery setzte sich neben sie, wobei ihre Röcke den größten Raum einnahmen, und die Tür wurde geschlossen. Unmittelbar darauf ruckte das Gefährt an und entfernte sich vom Heim, das in einer Staubwolke zurückblieb.
    Trübsinnig blinzelte Pandora durch einen Spalt in der Jalousie und sah das Gewimmel auf den Straßen. Noch nie hatte sie so viele Menschen gesehen. Wohin sie auch schaute, überall waren zerlumpte Gestalten unterwegs: Dienstmägde schleppten Körbe mit Kohlen und Brennholz, Fuhrleute transportierten Fässer, Kinder mit bloßen Füßen wichen Wagenrädern aus, sprangen hinten auf Kutschen auf und ließen sich ein Stück mitnehmen. Neidisch auf ihre Freiheit sah Pandora ihnen eine Weile zu, dann ließ sie ihren Blick an den Gebäuden emporwandern, in der Hoffnung, ein Stückchen Himmel zu erhaschen, doch alles, was sie erkennen konnte, waren brettervernagelte Fenster, gesprungene Ziegel und rußgeschwärzte, Rauchwolken spuckende Schornsteine.
    Es schien, als hätte die Stadt sie verschlungen.
    Niedergeschlagen tastete sie nach dem Stückchen Stoff in ihrer Tasche: H-O-F-F-N-U-N-G. Doch als sie statt Stoff auf einmal etwas Scharfkantiges, Metallenes zwischen den Fingern hielt, stellte sie erschrocken fest, dass sie vergessen hatte, ihre Schlüssel dem Heimvorsteher zurückzugeben! Sie wurde von dem plötzlichen Verlangen gepackt, Madame Orrery zu bitten, die Kutsche anhalten und umkehren zu lassen. Doch ein einziger Blick auf die stolze Frau dicht neben ihr überzeugte sie, dass es zu spät war. Es gab ohnehin keine Umkehr. Sie war kein Findelkind mehr.
    Sie drückte sich fröstelnd tiefer in die Ecke der Kutsche und zupfte am Saum ihres schlichten braunen Kleides. Anders als die meisten Mädchen im Heim war sie, wenn es um Handarbeiten ging, ein hoffnungsloser Fall, und schon zweimal hatte man sie in die dunkle stickige Kammer unter der Treppe gesperrt, wenn sie sich die Finger zerstochen hatte und deshalb unwillig geworden war. Was konnte

Weitere Kostenlose Bücher