Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Madame Orrery mit einem solchen Mädchen anfangen?
Allmählich ließ der Lärm auf den Straßen nach, und an die Stelle des nahezu unentwegten Geschreis der Straßenhändler und fahrenden Sänger trat das leise Klirren des Zaumzeugs und das tröstliche Geräusch der klappernden Hufe auf dem Boden. Endlich schob Madame Orrery ihre Jalousie hoch, um die schwachen Sonnenstrahlen einzulassen, die sich durch den dunstigen Himmel kämpften.
Pandoras Stimmung hellte sich auf. Weiße Häuser mit dunklen Zäunen und eisernen Laternen davor begrüßten sie. Was den Häusern an Höhe fehlte, machten sie an Umfang und Vornehmheit wett. Es gab sogar einen Park mit majestätischen Ulmen, in dem die Bewohner spazieren konnten.
Von dieser Entdeckung ermutigt stieg sie aus, sobald die Kutsche zum Stehen kam, und folgte Madame Orrery zu einem großen Steingebäude an der Ostseite des Platzes.
Fast sekundengenau mit ihrer Ankunft wurde von einem merkwürdigen Herrn in taubengrauem Mantel die Tür geöffnet. Er war nicht größer als Pandora und trug himmelblaue Kniehosen, makellose Strümpfe und Schuhe mit erhöhten Absätzen. Feine weiße Haare bekränzten seinen Kopf wie Dampfwölkchen. Er verbeugte sich untertänig, als sie eintraten, und schloss die Tür hinter ihnen.
Pandora fand sich in einer kalt und abweisend wirkenden Eingangshalle wieder, in der zu beiden Seiten Türen mit schweren Vorhängen waren und deren Fußboden so sehr glänzte, dass sie sich fast darin spiegeln konnte. Gegenüber der Haustür führte eine wie ein Schwanenhals geschwungene Treppe zu einem kleinen Balkon empor, von dem aus man die Eingangshalle überblicken konnte. Zwei schmale Türen auf diesem Balkon schirmten die dahinter liegende Wohnung ab.
Madame Orrery trat neben Pandora. »Dieser Heimvorsteher führt sich auf wie der reinste Clown«, erklärte sie, und ihre Stimme hallte zwischen den glatten weißen Wänden. »Trotzdem glaube ich, dass es ihm um viel mehr geht als nur um diesen Jungen.«
Sie blieb auf der zweiten Stufe der Marmortreppe stehen. Etwas Geheimnisvolles legte sich wie ein Schleier über ihr Gesicht. »Ich denke, Mr Sorrel, eine meiner Sitzungen unter vier Augen wird genügen. Ich muss schnellstens einen Grund finden, dem Findelhaus einen zweiten Besuch abzustatten.«
Der Mann senkte den Kopf. »Wie Sie wünschen, Madam«, sagte er.
»Gut. Nun zeigen Sie dem Mädchen sein Zimmer und kümmern Sie sich darum, dass es bald zu gebrauchen ist.«
Der Mann streifte Pandora mit einem flüchtigen Blick und verbeugte sich.
»Jawohl, Madam.«
Ohne ein weiteres Wort rauschte Madame Orrery die Treppe weiter empor und verschwand hinter einer der oberen Türen. Für einen Sekundenbruchteil konnte Pandora etwas Goldenes blitzen und Spiegel glänzen sehen, doch dann schloss sich die Tür hinter Madame Orrery.
Der kleine Mann wandte sich ihr zu und betrachtete sie noch einmal von Kopf bis Fuß.
»Wie heißt du?«, fragte er mit hoher Singsangstimme.
»Pandora, Mr Sorrel«, antwortete sie mit einem Knicks.
Ein Lächeln umspielte die Lippen des Mannes. »Schön, Pandora, dann komm hier entlang.«
Durch einen der mit Vorhängen abgetrennten Eingänge konnte sie eine große hölzerne Wanne erkennen und darum herum einen Kreis aus hochlehnigen Stühlen. Sie sah herabhängende Bänder und kurze ellbogenförmige Stangen.
»Was ist das?«, fragte sie und blieb ein wenig zurück.
»Das«, sagte Mr Sorrel, wobei er die Vorhänge zur Seite schob, »ist Madame Orrerys Behandlungszimmer. Hier lässt sie ihre heilenden Kräfte wirken.«
Pandora machte große Augen. Die Wände des Raums waren in dunklem Rot gestrichen und mit merkwürdigen astrologischen Symbolen übersät.
»Ist es wahr?«, sagte sie, als ihr einfiel, was Madame Orrery zu Mr Chalfont gesagt hatte. »Kann sie den Menschen wirklich ihre Erinnerungen nehmen?«
Mr Sorrel machte ein Gesicht, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Aber gewiss doch! Madame Orrery ist die berühmteste Hypnotiseurin in ganz London! Von nah und fern kommen Patienten, um sich ihrer Behandlung zu unterziehen! Es handelt sich um eine sehr überzeugende Wissenschaft. Sie hat ihre Kenntnisse in Paris von Monsieur Mesmer persönlich erworben.«
Pandora bemerkte ein seltsames Instrument in der Ecke. Es glich einem kleinen Cembalo, irritierend war nur, dass obendrauf eine Reihe von etwa dreißig Glasschälchen unterschiedlicher Form und Größe stand.
»Ah, die Glasharmonika«, sagte Mr Sorrel, der
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