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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Skelton
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zerbrechlich, dass man den Eindruck hatte, er verblasse bereits zu einem Geist. Seine Wangen waren geschwollen, und er wimmerte vor Kälte. Pandora nahm ihn behutsam bei der Hand und führte ihn zur Tür.
    Vielleicht würde die Frau vom nächsten Bauernhof wissen, was zu tun sei. Vielleicht würde sie sie aufnehmen und ihnen eine Mutter sein. Oder, wenn nicht, vielleicht würde sie ihnen den Weg zu dem Haus zeigen, über das Mrs Stockton ständig geschimpft hatte, das Haus, aus dem sie und ihr Bruder gekommen waren: das ›Heim für Windelkinder‹ in London, viele Meilen entfernt …
     
    Pandora riss die Augen auf. Da war er schon wieder, dieser Traum – der Traum, der sie verfolgte, seit sie vor einigen Wochen in das Haus der Mesmeristin gekommen war, der Traum von ihrem Zwillingsbruder. Nein! Sie würde nicht schon wieder an ihn denken! Der kleine Hopegood, ihr Bruder, war tot. Sie hatte selbst gesehen, wie der Vorsteher ihn in einem namenlosen Grab außerhalb der Heimmauern begraben hatte. Sie hatte ihn nicht retten können.
    Zitternd erhob sie sich von ihrem Bett und ging durch das Zimmer zum Fenster, wobei sie unwillkürlich die Zehen einzog, als sie an die Kälte damals dachte. Noch jetzt konnte sie spüren, wie Matsch und Schlamm auf den Landstraßen an ihren Füßen gezerrt hatten, und wie schwach und kraftlos sich die Finger ihres Bruders angefühlt hatten, als sie langsam ihrer Hand entglitten waren … Wenn sie damals doch mehr hätte tun können!
    Sie stieg auf die Truhe unter dem Fenster, sah hinaus und versuchte, die Erinnerung aus ihren Gedanken zu verdrängen. Eine stinkende Dunstglocke hatte sich über die Stadt gelegt, die Sonne sah aus wie eine Blase, die bleich und wässerig durch die Wolken sickerte.
    Pandora kletterte von der Truhe, zog ihr vom Schlafen zerknittertes Nachthemd aus, stieg in ihr Mieder und warf die formlosen Falten ihres braunen Findelkind-Kleides über Kopf und Schultern. Es würde wieder ein langer, heißer, anstrengender Tag werden. Nach einem letzten Blick auf den unheilvollen Himmel verließ sie ihr Zimmer.
    Sie ging hinunter und traf in der Küche mit Mr Sorrel zusammen.
    »Wie hast du geschlafen?«, fragte er, als sie das eiserne Spülbecken an der Wand ansteuerte.
    »Nicht gut. Ich habe wieder von meinem Bruder geträumt.« Sie spritzte sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. »Ich kann nichts machen. Er geht mir nicht aus dem Kopf.«
    »Du solltest mal mit Madame Orrery über deine Träume reden«, sagte Mr Sorrel, während er auf einem Tablett gezuckerte Datteln anordnete. »Eine ihrer speziellen Behandlungen könnte dich von jedem zwanghaften Denken an die Vergangenheit befreien. Für immer.«
    Pandora sah ihn an – zu gern hätte sie gewusst, was er damit meinte, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein danke«, sagte sie. Noch immer war sie nicht ganz sicher, was hinter den Vorhängen zu Madame Orrerys Behandlungsraum vor sich ging, jedenfalls hatte sie in den letzten Wochen viel zu viel Schreien und Stöhnen gehört, um sich von Madame Orrery behandeln zu lassen.
    Mr Sorrel sagte nichts, sondern löffelte eine Portion klumpig gewordenen Haferbrei auf einen Teller. Er streute eine Handvoll Rosinen darüber und reichte ihn Pandora.
    Sie setzte sich an den Tisch, begann zu essen und sah dabei zu, wie Mr Sorrel rastlos in der Küche umherhuschte – er konnte anscheinend nicht zur Ruhe kommen. Obwohl sie ihm viele Einzelheiten aus ihrer Vergangenheit anvertraut hatte und sogar so weit gegangen war, ihm vom Schicksal ihres Zwillingsbruders zu erzählen, hatte er noch nie etwas von seinem Leben preisgegeben. Seine eigene Geschichte behielt er streng für sich.
    Wieder einmal versuchte sie, ihn zum Reden zu bringen.
    »Erzählen Sie mir von Madame Orrery«, sagte sie. »Wie ist sie zum Mesmerismus gekommen?«
    Mr Sorrel sah sie einen Moment an, dann setzte er sich. Mit einem ordentlich gefalteten Taschentuch tupfte er sich über das Gesicht. »Madame Orrery war einmal die am meisten bewunderte Frau in Frankreich«, begann er. »Sie wurde verehrt für ihre Schönheit, ihre Klugheit und ihren Charme. Mit ihrem Gatten verkehrte sie in den glanzvollsten Häusern und Salons.«
    »Mit ihrem Gatten?«, fragte Pandora überrascht.
    »Allerdings«, sagte Mr Sorrel. »Ihr Mann war ein berühmter Uhrmacher, einer der besten des Landes.«
    Pandora dachte an die silberne Uhr, die sie bei Madame Orrery gesehen hatte. »Ihre Taschenuhr«, murmelte sie.
    Mr Sorrel nickte.

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