Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
»Sie war ein Geschenk ihres Mannes zum zehnten Hochzeitstag. Eine silberne Uhr in Herzform, die angeblich nie aufgezogen werden musste und niemals nachging. Sie war als Symbol seiner unsterblichen Liebe gedacht.«
Pandoras Herz klopfte heftig. »Aber ich habe gesehen, dass sie sie aufgezogen hat«, wandte sie ein. »Vor ein paar Wochen, im Arbeitszimmer des Vorstehers. Was ist passiert?«
Mr Sorrel schaute zur Seite. »Nicht lange nachdem Madame Orrery die silberne Uhr bekommen hatte, musste sie feststellen, dass ihr Mann noch eine zweite dieser Art gemacht hatte – und zwar eine goldene – für ein Mädchen, das kaum halb so alt war wie sie und bereits hochschwanger mit seinem Kind. Es heißt, im selben Moment, als sie von seinem Betrug erfuhr, sei sie kaltblütig geworden, und gleichzeitig habe auch die Uhr aufgehört zu ticken – als sei sie ebenso gebrochen wie ihr Herz. Niemand konnte sie reparieren.«
Pandora stockte der Atem. »Was hat sie dann gemacht?«
»Sie ist fortgegangen. Sie verließ den Hof, ihren Mann, alles, und widmete sich stattdessen dem Studium des menschlichen Körpers; insbesondere dem Blutkreislauf und dem Zusammenhang zwischen Herz und Verstand. Ihre Nachforschungen führten sie zu den Wundern des Mesmerismus‹!«
Pandora schwirrte der Kopf, und während sie noch versuchte zu verstehen, bemerkte sie Mr Sorrels schuldbewusste Miene – es war, als bedauere er, dass er so viel verraten hatte. »Und Sie, Mr Sorrel?«, fragte sie vorsichtiger. »Wie sind Sie in den Dienst von Madame Orrery gekommen?«
Die Stimme des Mannes war leise und klang wie aus weiter Ferne. »Das, Pandora«, sagte er, »kann ich dir nicht erzählen.«
Er sah zu Boden, doch dann wanderte sein Blick zu den schweren Flaschen mit magnetisiertem Wasser im angrenzenden Raum. Pandora ließ die Schultern hängen. Jeden Tag war es dasselbe. Wenn sie nicht auf Händen und Knien mit einer derben Holzbürste die Fußböden scheuerte, musste sie Madame Orrerys Wanne mit magnetisiertem Wasser füllen oder das Wasser ausleeren. Mr Sorrel hatte die beneidenswerteren Aufgaben: Silber polieren, Gäste begrüßen und – was er mit großer Souveränität tat – die Glasharmonika spielen.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte Mr Sorrel: »Madame Orrery hat heute Vormittag Sprechstunde. Du musst den Behandlungsraum vorbereiten, wie üblich, und danach die Eingangshalle wischen.«
»Ja, Mr Sorrel«, antwortete sie mit einem Knicks.
»Und, Pandora«, fügte er hinzu, während sie bereits unterwegs zur Tür war. »Du darfst Madame Orrery gegenüber nie und mit keinem Wort etwas von dem erwähnen, worüber wir heute gesprochen haben, ist das klar? Sie wäre äußerst ungehalten darüber, dass ich so offen über ihre Vergangenheit gesprochen habe.«
»Ja, Mr Sorrel.«
»Schön.« Der Mann schien sich zu entspannen. Sein Gesicht hellte sich auf. »Madame Orrery lässt sich heute Nachmittag das Haar machen für einen Besuch im Findelhaus heute Abend. Wenn du alles erledigt hast, kannst du von mir aus den Rest des Tages freinehmen.«
Pandora sah auf. »Im Findelhaus?«, sagte sie, und plötzlich fiel ihr wieder die Szene im Arbeitszimmer des Vorstehers ein.
Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf Mr Sorrels Lippen. »Madame Orrery konnte den Vorsteher davon überzeugen, dass er sich einer privaten Behandlung unterziehen müsse«, sagte er. »Offenbar wirkt sich das Wetter verheerend auf seine Gicht aus. Sie soll ihn heute Abend mesmerisieren.«
Unwillkürlich tasteten Pandoras Finger nach dem Schlüsselbund in ihrer Tasche, den Schlüsseln, die sie vergessen hatte, dem Vorsteher zurückzugeben. Doch ehe sie noch weiter fragen konnte, schepperte eine Glocke an der Wand, und Mr Sorrel sprang auf. Er griff nach dem Tablett mit gezuckerten Datteln – Madame Orrerys Frühstück – und verließ unverzüglich die Küche.
Kribbelig vor Neugier schleppte Pandora die schweren Flaschen mit magnetisiertem Wasser zum Behandlungsraum und machte sich langsam an die Arbeit. Ihre Gedanken rasten. Was führte Madame Orrery im Schilde? Was plante sie? Schon vor einigen Wochen hatte sie Mr Sorrel erklärt, sie müsse bald eine Möglichkeit finden, das Findelhaus ein zweites Mal zu besuchen, weil sie annahm, dass es dem Vorsteher um viel mehr ginge als nur um den Jungen … Galt ihr Interesse wirklich allein dem Wohlergehen des Heimvorstehers – oder steckte etwas ganz anderes dahinter? Wonach könnte sie suchen?
Der Behandlungsraum war
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